Texte zum Seminar: Erleben – pädagogisch vernachlässigter Begriff 1. Aspekte zum Begriff Erleben Ausgangspunkt: Lebewesen Mensch, Leiblichsein schließt Subjektivität ein (vgl. H. Schmitz) Erleben ist Gewahrwerden der eigenen Lebendigkeit als ein In-der-Welt-sein. Sie ist dabei nicht Erkenntnisgegenstand (Objekt), sondern wird im Vollzug als Gewahrwerden evident. Leben er-leben Leben versteht Leben notw. Bedingung: sinnlich sein in aufrechter Haltung (Sinnlichkeit = Kommunikations- weisen) Wachheit, leibhaftige Vernunft, Bewusstheit Beziehung Verbundenheit mit Mitsein, in Beziehung sein, nicht trennendes gegenständliches Erkennen subjekthaft, subjektabhängig, einzig Subjekt ohne Objekt Einssein vgl. Straus' Kontinuum Anwendungen: Woher wissen wir, dass wir lebendig sind? Durch den Lebensvollzug (sinnliche Gewissheit) Was ist das Ich? Ein begriffliches Konstrukt. Wie werden wir unserer selbst gewahr (unserer selbst als Ich)? Nur im Er-leben (vgl. Buytendijk S, 25). Das Sich-als-Selbst-Erfahren (Erleben) geht wohl gut in Musik (im Mitschwingen). Erleben = Wissen, dass wir leben. Erleben ist Bedingung für Erfahrung Bedingung von Erleben ist sinnliche Kommunikation Erleben gründet in Sinnentätigkeit, in Wahrnehmung und Bewegung, Fortbewegung, auch innerer Bewegung Erleben ist bewusstes Sein Erleben/Erfahren bedarf des Sicheinlassens, des Mutes, ist wie Abenteuer (vgl. Simmel nach Gadamer) Erfahrung als Sediment, Gebliebenes, Ertrag, Ergebnis, (so auch schon Erlebnis bei Gadamer!) Erfahrung entsteht aus Umgang mit Erleben/Erlebtem 2. Erleben Aus: Erwin Straus, Die aufrechte Haltung. In: Psychologie der menschlichen Welt. Ges. Schriften, Berlin 1960, S. 234. (Absätze von J. F. gesetzt.) Der aufrechte Mensch, von dem hier die Rede ist, ist verstanden als ein leibhaftes, erlebendes Wesen. Er ist nicht gemeint als ein leibloses und weltloses Bewusstsein, auch nicht als ein Körper, ein bewusstlos funktionierendes Nervensystem, noch als ein Kompositum aus beiden. Er ist auch nicht verstanden als ein Organismus, in dem ein Es, ein Ich und ein Über-Ich zusammen und gegeneinander wirken. Erleben ist daher nicht verstanden als eine Folge von Eindrücken, Vorstellungen, Wünschen, Erinnerungen, die in ihrer zeitlichen Folge und dynamischen Verknüpfung das Verhalten des Organismus bestimmen. Der Ausdruck Erleben deutet auf eine bestimmte Weise des In-der-Welt-seins, die in vielen Gestaltungen von Lebewesen angetroffen wird. Sie ist charakterisiert durch das Verhältnis zum andern, nämlich dadurch, dass im Erleben das andere als anderes in mannigfaltigen Beziehungen erfasst und behandelt wird. Im Verhältnis zu dem andern, in dauernden oder wechselnden Verhältnissen, erfasst und bestimmt auch der Erlebende erst sich selbst. Es gibt keine Priorität des SelbstBewusstseins vor dem WeltBewusstsein. Was wir wahrnehmen, vorstellen, begehren, denken, lieben, hassen nennen, alle diese „Klassen von Erlebnissen" bezeichnen nur verschiedene Weisen der Beziehung und des Kontaktes mit dem andern, d. i. mit der Welt, der Umwelt, der Mitwelt. 3. Erleben Aus: Otto F. Bollnow, Philosophie der Erkenntnis, Stuttgart 1970, S. 52f. Wir beginnen mit der Wahrnehmung. Sie steht nach der überlieferten und auch sehr plausiblen Auffassung am Anfang aller Erkenntnis, denn sie liefert die Kenntnisse, Beobachtungen und Feststellungen noch vor aller Deutung und Erklärung als das Material, auf dem es dann weiter aufzubauen gilt. Was eine Wahrnehmung ist, erscheint dabei als verhältnismäßig unproblematisch. So finden wir etwa, um ein beliebiges Beispiel zu nehmen, im Metzkeschen Handbuch2 die Definition: Wahrnehmen ist »ursprüngliches Gewahrwerden überhaupt; insbes. sinnliches Gewahrwerden ...« und damit in einem speziellen Sinn »erkennendes Aufnehmen eines durch die Sinne vermittelten Objekts«, wobei der speziellere Sinn der in der Erkenntnistheorie allgemein zugrunde gelegte ist. Diese Bestimmung wird in einer Erläuterung noch von benachbarten Begriffen abgehoben: »von der Empfindung unterschieden durch gegenständliche Bestimmtheit, von der Vorstellung sowohl durch den Zug sinnlicher Fülle und Anschaulichkeit wie durch ihre Unabweisbarkeit und Unabhängigkeit vom Willen«. Zum Vergleich sei noch die Kantische Definition hinzugefügt: Wahrnehmungen sind »mit Empfindung begleitete Vorstellungen«3, also Vorstellungen von Dingen, sofern sie durch die Sinne unmittelbar gegeben sind, im Unterschied zu bloßen Phantasievorstellungen, denen ein sinnlich gegebener Gegenstand fehlt. Der Begriff der Wahrnehmung ist insofern verhältnismäßig unbelastet, als darin über die Art des »Aufnehmens« des »durch die Sinne vermittelten Objekts«, über das Zustandekommen der dabei leitenden »Vorstellung« gar nichts ausgesagt wird und diese Unbestimmtheit in verschiedener Weise konkreter ausgefüllt werden kann. Die Wahrnehmung kann im empiristischen Sinn auf elementare Empfindungen zurückgeführt werden und wird auch wohl meist in diesem Sinn verstanden, aber dieser Begriff ist nicht an diese Voraussetzungen gebunden und lässt sich darum auch ohne Zwang in unsre Überlegungen einführen. Wir versuchen daher eine möglichst unbefangene, von dogmatischen Vorentscheidungen unabhängige Analyse der Wahrnehmung. Die meisten Versuche in dieser Richtung leiden darunter, dass sie das Problem zu »hoch« ansetzen, nämlich im Bereich des schon ausgeformten logischen Denkens, und darum die »vorlogischen« Lei­stungen übersehen, die im Zustandekommen der Wahrnehmung vor allem logischen Zugriff schon immer wirksam sind und die auch Kant schon im Auge hatte, als er in einer bedeutsamen Anmerkung darauf hinwies, dass die Einbildungskraft, die »das Mannigfaltige der Anschauung in ein Bild bringen« soll, schon in der einfachen Wahrnehmung wirksam sei: »Dass die Einbildungskraft ein notwendiges Ingredienz der Wahrnehmung selbst sei, daran hat wohl noch kein Psychologe gedacht«4. Darum wird es auch hier notwendig, den Vorgang der Wahrnehmung in anthropologischer Betrachtung möglichst weit in die Anfangsgründe des Lebens zu­rückzunehmen, d. h. hinter die heutige Bewusstseinsstufe zurück ontogenetisch und phylogenetisch in seine Ursprünge hinein zu verfolgen. Aus: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 2, Art. Erleben, Erlebnis (K. Cramer), Basel 1972, Sp. 702-711; Zitat: Sp. 703f. Einen allgemeinen begrifflichen Gebrauch von scheint ... erst das Verfügen über die in der neuen Wortbildung gelegenen Bedeutungsmomente nach sich gezogen zu haben. Die Begriffsgeschichte von ist insofern die von , als terminologisch erst dort auftritt, wo es als dessen verbale Form bzw. nominales Synonym (das Erleben) gebraucht wird. Das Motiv zu der neuen Wortbildung ist der Bedeutungsanalyse von < Erleben > zu entnehmen. < Erleben > heißt zunächst >noch am Leben sein, wenn etwas geschieht. Von daher trägt das Wort den Ton der Unmittelbarkeit, mit der etwas Wirkliches erfasst wird, die keiner fremden Beglaubigung bedarf und aller vermittelnden Deutung vorhergeht. Das Erlebte ist stets das Selbsterlebte, dessen Gehalt sich keiner Konstruktion verdankt. Zugleich bezeichnet die Form >das Erlebte> solches, was im Fluss des unmittelbaren Erlebens als der aus ihm ermittelte Ertrag Dauer und Bedeutsamkeit für das Ganze eines Lebenszusammenhangs gewonnen hat. Beide Bedeutungsmomente erscheinen in der Wortprägung in verdichteter Weise produktiv vermittelt: zum E. wird ein Erlebtes, sofern es nicht nur schlicht erlebt wurde, sondern sein Erlebtsein einen besonderen Nachdruck hatte, der ihm bleibende Bedeutung sichert. Im E. ist der Erlebende aus dem Trivialzusammenhang seines Erlebens herausgehoben und zugleich bedeutsam auf das Ganze seines Daseins bezogen. Was als E. gewertet wird, ist durch seine Bedeutsamkeit zur Einheit eines Sinnganzen zusammengeschlossen, das die Unmittelbarkeit bloßen Erlebens ebenso übersteigt wie die Positivität der Bestimmtheit des einzelnen E. durch seinen Gegenstand und sich daher auch den Lebensmomenten mitteilt, die nicht in gleicher Weise Sinn gewähren. Da sich diese erschließende Leistung des E. in bezug auf den unvollendeten Fluss des Erlebens und in ihm zumal vollzieht liegt in ihr aber auch die Unmöglichkeit einer vollendeten rationalen Vermittlung des E.-Gehalts. Insofern gehört es zum Wesen von E., seine betonte Unmittelbarkeit zu behalten und nicht in dem aufzugehen, was sich als seine Bedeutung festhalten lässt. Aus: Lexikon der Pädagogik. Neue Ausgabe, Freiburg 1970, 1. Bd. E. = Erlebnis 1. Erleben und Lebensphilosophie. Der E.-begriff gehört in den Umkreis der Lebensphilos., deren primum datum nicht der Verstand, sondern das Leben ‑ nicht das cartesische cogitans sum, sondern das vivens sum bildet. Der Vieldeutigkeit des Lebensbegriffs entspricht eine Vielfalt von lebensphilos. Theoremen und Beiträgen zum E.begriff, die von F. NIETZSCHE, L. KLAGES, H. BERGSON, G. SIMMEL und W. DILTHEY in verschiedener Weise entwickelt wurden. Vor allem DILTHEY gibt dem E. eine begriffliche Fassung und eine zentrale Stellung in seiner Lebensphilosophie. 2. SCHLEIERMACHER: Das religiöse Erlebnis. Der E.-begriff ist neben dem Verstehensbegriff ein Grundbegriff der geisteswiss. Päd. und Psychol. SCHLEIERMACHER verwendet diesen Begriff noch nicht in der hier gemeinten Bedeutung, der Begriff wurde aber in die Schleiermacherinterpretation von W. DILTHEY eingeführt. (Vgl. O. PIPER, 1920). Bedeutsam ist dies vor allem deshalb, weil das als religiöses E. interpretierte religiöse Gefühl in den Reden „Über die Religion", in der Glaubenslehre und bes. in der„Dialektik" von 1822 sich als die Grundkategorie von Schleiermachers philos.-theol. Konzeption und damit auch seiner Ethik und Päd. erweist. 3. W. DILTHEY: Leben, Erleben und Verstehen. Die Lebensphilos. hat nach W. DILTI1EY die Aufgabe, die unmittelbar gegebene Lebenswirklichkeit aufzuhellen. Leben umfasst und beinhaltet im engeren Sinne das Dasein des einzelnen Menschen und im weiteren Sinn den Lebenszusammenhang, in dem der einzelne sich vorfindet. Dem engen Lebensbegriff entspricht ein enger Erlebnis- und Verstehensbegriff, und von dem weiten Lebensbegriff ist ein weiter und vollerer Erlebnis- und Verstehensbegriff abhängig. Auf diese Weise entstehen zwei wissenschaftstheoret. Modelle, die psychol. und die hermeneut. Grundlegung der Geisteswiss.en, die mancherlei Übergänge und Schwierig­keiten aufweisen und u. a. für die Gesch. der geisteswissenschlaftl. Pädagogik bedeutsam sind. a) Die Totalität des eigenen Seelenlebens ist dem einzelnen im E. unmittelbar gewiss. Nach dem Modell der psychol. Grundlegung der Geisteswiss.en erweist sich die E.innerlichkeit des Seelenlebens als unmittelbar gewisse Grundlage der Geisteswiss.en. Unter der frag­würdigen Voraussetzung der strukturellen Gleichartigkeit des Seelenlebens aller Menschen ist nun das Erleben der eigenen Seelenstruktur die Bedingung der Möglichkeit für das Verstehen von eigenem und fremdem Dasein. b) DILTHEY versucht vor allem in der Schrift über den „Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften" (Gesammelte Schr., Bd. VII) der subjektivistischen und psychologistischen Verengung des Lebens- und E.begriffs zu entgehen. Die Zeitlichkeit des Menschen wird als Geschichtlichkeit begriffen; damit wird die binnenhafte Innenwelt aufgebrochen. „Was der Mensch sei, das erfährt er ja doch nicht durch Grübelei über sich, auch nicht durch psychologische Experi­mente, sondern durch die Geschichte." Der einzelne steht immer schon in einem ge­schichtlichen, ihn umfassenden Lebenszusam­menhang, der nicht mehr von ihm allein erlebt und erfahren wird. Die These von der strukturellen Gleichartigkeit des Seelenlebens aller Menschen erweist sich als eine theoret. Konstruktion, die der gesch. Realität nicht gerecht wird. Die Individuen sind vielmehr eingebettet und eingetaucht in ein gemein­sames Medium des Lebens, Erlebens und Verstehens, das Gebärden, Worte, Sätze, Sinnzusammenhänge bis hin zu den Kultur­systemen umgreift und als geschichtliche Welt des objektiven Geistes interpretiert wird. 4. Die Erlebnispädagogik. Das Erleben spielt in der Kunsterziehungsbewegung eine Rolle, und Pädagogen wie H. SCHARRELMANN und F. GANSBERG waren geneigt, im Schülererleben eine Hauptaufgabe des Unter­richts zu erblicken, die später von der Forde­rung nach produktiver Tätigkeit in den Hintergrund gedrängt wurde. Die Methodik des E.ausdrucks der Ausdrucks­fächer führt nach W. NEUBERT zu einer Stufentheorie, deren Stufendifferenzierung abhängig ist vom Objektivationsdrang der Erlebnisse. Die Methodik des nacherlebenden Ver­stehens der aufnehmenden Fächer orientiert sich an dem Zusammenhang von Erleben - Ausdruck - Verstehen. Auf phänomenologische Weise werden die aufeinanderfolgenden Momente des E.prozesses analysiert, welche die method. Stufen des E.unterrichts wie folgt bestimmen: „Vor­bereitung oder Einstimmung ‑ aus dem eige­nen E. heranwachsende Darbietung ‑ Besin­nung über das Erlebte. ‑ Rationalisierung des Erlebnisses durch Gewinnung der in ihm an­gelegten Begriffe ‑ Aufruf zur Tat" (W. NEU­BERT, 1930). 5. Zur Kritik der Erlebnispädagogik. Die E.päd. verlässt den umfassenden Zusammen­hang von DILTHEYs Lebensphilos. und be­deutet eine Verengung und Verkürzung des päd. Problemhorizonts. Der E.begriff wird absolut gesetzt und zum Unterrichtsprinzip hypostasiert, das den UnterrichtsProzess be­stimmt. In der Gegenwart wird der Erlebnis­begriff vor allem vom Begegnungsbegriff (Begegnung) kritisiert und geht als Moment in ihn ein. Lit.: W. Dilthey, Das E. u. die Dichtung (1905); Gesammelte Schriften, 14 Bde. (1914 ff); H. Scharrel­mann, Erlebte Päd. (1912); F. Gansberg, Schaffens­freude (1912); O. Piper, Das rel. E. (1920); W. Neubert, Der E.unterricht, in: Sachwb. der Dt.kunde, hrsg. v. W. Hofstaetter-U. Peters, Bd. 1 (1930); ‑, Das E. in der Päd. (31932, mit ausführl. Lit.); O. F. Bollnow, Dilthey (1936); ‑, Die Lebensphilos. (1958, °1966); H. G. Gadamer, Wahrheit und Methode (21965); K.-H. Schäfer, Die Päd. Schleiermachers in ihrem Zu­sammenhang mit seiner Philos. (Diss. phil. 1965); L.J. Pongratz, Problemgesch. der Psychol. (1967, mit ausführl. Lit.). K. H. Schäfer Aus: F. Nietzsche, Menschliches, Allzumenschliches, 1. Bd. In: Werke in drei Bänden, hg. Rolf Toman, Bd. 1, Seite 595 627. Leben und Erleben. ‑ Sieht man zu, wie Einzelne mit ihren Er­lebnissen ‑ ihren unbedeutenden alltäglichen Erlebnissen ‑ umzugehen wissen, so dass diese zu einem Ackerland werden, das dreimal des Jahres Frucht trägt; während Andere ‑ und wie Viele! ‑ durch den Wogenschlag der aufregendsten Schicksale, der mannigfaltigsten Zeit‑ und Volksströmungen hindurchgetrieben werden und doch immer leicht, immer obenauf, wie Kork, bleiben: so ist man endlich versucht, die Menschheit in eine Minorität (Minimalität) Solcher einzuteilen, welche aus Wenigem Viel zu machen verstehen, und in eine Majorität De­rer, welche aus Vielem Wenig zu machen verstehen; ja man trifft auf jene umgekehrten Hexenmeister, welche, statt die Welt aus Nichts, aus der Welt ein Nichts schaffen. 7. Zum Zusammenhang von Ästhetik und Ethik Menschlicher Natur ist das Gewahren der eigenen Lebendigkeit möglich; das schließt deren Bejahung ein (Bewusstheit als Affektivität; vgl. Rolf Kühn über Michel Henry). Auch Sterbensbereitschaft ist Lebensbejahung. In tätigem Erkennen wird Kooperation als biologischer Grund der Ethik wahrgenommen (H. F. Maturana). Dass etwas sei, geht vor dem Nichtsein (Hans Jonas). In menschlicher Natur ist Töten kein Lebenszwang (gegen G. Heinsohn). Menschliche Praxis enthält notwendig Wert und Bewerten (Gelingen und Misslingen). Leibhaftige Vernunft umfasst die "logique du coeur" und die "logique du raison" (B. Pascal). „Wir erkennen die Wahrheit nicht nur durch die Vernunft, sondern auch durch das Herz.... . Und es ist dieses Wissen des Herzens, und des Spürsinns, auf das sich die Vernunft stützen muss, auf das sie alle Ableitungen gründet . Die Prinzipien erspüren wir, die Lehrsätze erschließen wir, und beides mit Sicherheit, obgleich auf verschiedene Weise“ (Pascal, Pensées; nach P. Christian, S. 42, Anm.) Vernunft ist (in der Philosophie des Mittelalters) ratio und intellectus. Ratio analysiert und schließt, intellectus schaut (simplex intuitus) (J. Pieper), vgl. H. Bergson. Darum wird im Anschauen die Subjekthaftigkeit des Tuns wahrgenommen (F. J. J. Buytendijk). Monistische Wissenschaft entdeckt den Menschen nicht als Herrn des Rohstoffs Welt, sondern als Lebewesen im Verbund (La Mettrie, Marx, Tomberg). Pädagogik der Sinne hat ihre Berechtigung darin, dass Physiologie der Sinne den Sinn (der Sinne) ausklammert. Physiologie kennt keinen Lebenssinn und kein Subjekt. Das Schwinden der Sinne und der Leiblichkeit sind im Gange, noch bevor Wissenschaft geklärt hat, was Erleben und Bewusstheit ist. KI und Biochips könnten mit der Leiblichkeit das Erleben abschaffen. Die cartesianische Maschine wird dann von einer Auffassung zu Wirklichkeit. Erlebnisse sind bereits als warenhaftes Angebot zu momentanen Rauschmitteln geworden. Die Simulationen schaffen Hyperrealität, Indifferenz. Pädagogik (der Sinne) hat als pädagogische Ethik die Aufgabe, Heranwachsenden klar werden zu lassen, dass und inwiefern sie für das Gestalten und Gelingen ihres Lebens geradestehen müssen. (Welche Haltungen kann ich einnehmen, um mein Leben gut zu machen.) Adorno: Bürgerliche Kälte Auf dem Weg zum homo inhumanus breitet sich Kälte aus. Denn der Mangel an Erfahrung von Menschlichkeit führt dazu, dass ein menschliches Selbst nicht gebildet wird. Diese Menschen erscheinen im Umgang mit Menschen seelenlos, hartherzig; sie behandeln alles gleichermaßen wie Objekte. Sie haben nicht hinreichend gelernt, mit Menschen anders umzugehen als mit Gebrauchsgütern. Hier ist es nicht mit Appellen und gutem Willen getan, es geht um Erfahrung. Und nun wird deutlich, wieso Verkörperung von Menschlichkeit etwas mit Moral zu tun hat. Erstens weil in allem Sinnenbewusstsein, d. h. in allem Erleben, auch schon ein Wertbewusstsein liegt, und zwar in ästhetischer und in moralischer Hinsicht. Und zweitens weil Verkörperung von Menschlichkeit nötig ist, damit junge Menschen sich daran erbauen, in einem ganz wörtlichen Sinn vom Bauen unseres Selbst. Ich zitiere in meinen Vorträgen deshalb oft ein Wort aus Theodor W. Adornos Radiovortrag „Erziehung nach Auschwitz“ von 1965 und eines des englischen Psychiaters Ronald D. Laing, das er auch bereits 1967 in unsere gesellschaftliche Situation hineingesprochen hat. Bei der Beschreibung des manipulativen Charakters, den Adorno als den für Auschwitz typischen Täter kennzeichnet, heißt es, zu ihm gehöre die "Unfähigkeit, überhaupt unmittelbare menschliche Erfahrungen zu machen." Der manipulative Charakter sei zu "Erfahrung eigentlich nicht fähig". Er fetischisiere die Technik, seine Liebe richte sich auf diese Technik und nicht auf Menschen. Diese Charaktere seien durch und durch kalt; und ohne diese Kälte des gesellschaftlichen Einzelnen wäre Auschwitz nicht möglich gewesen. „Unfähigkeit zur Identifikation war fraglos die wichtigste psychologische Bedingung dafür, dass so etwas wie Auschwitz sich inmitten von einigermaßen gesitteten und harmlosen Menschen hat abspielen können.“ Wären die Menschen "nicht zutiefst gleichgültig gegen das, was mit allen anderen geschieht außer den paar, mit denen sie eng und womöglich durch handgreifliche Interessen verbunden sind, so wäre Auschwitz nicht möglich gewesen, die Menschen hätten es dann nicht hingenommen“. 1 Während die Technik hochgeschätzt wird, wird die Verkörperung von Menschlichkeit unterschätzt. Dadurch verbreitet sich eine Empfindungslosigkeit gegenüber Menschen und Lebendigem, die bereits als „Anästhesie“ bezeichnet wird. Die Vorurteile des Rassismus, der Ausländerfeindlichkeit wie auch des Antisemitismus kommen nicht zuerst aus dem leibhaftigen Umgang mit den Menschen, sondern eben aus Vorurteilen, also aus einer kognitiven Leistung; auf deutsch: aus einer geistigen Leistung. Vorurteile sind Urteile, eventuell Vorstellungen, aber keine Wahrnehmungen. Zuerst wird das Vorurteil übernommen, danach kann man es sich immer wieder bestätigen. Die Vorurteilsforschung hat erwiesen, dass alle Kinder unbefangen miteinander spielen. Sie stellen ihren Sinn für Verkörperung von Menschlichkeit zunächst nicht durch Hautfarbe oder ethnische Zugehörigkeit in Frage. Die Vorurteile werden den Kindern mitgeteilt, durch verbale Indoktrination. Das schafft Skepsis als geistige Haltung vor der Erfahrung. Von da an lassen sich die Vorurteile durch leibhaftige Erfahrungen scheinbar bestätigen. Der Antisemitismus in Deutschland war – und ist noch – ebenfalls eine kognitive Leistung. Man mag diese Geisteshaltung einen Ungeist nennen, sie kam nicht und kommt heute nicht aus einer Erfahrung im Umgang mit Juden. In Deutschland gab es 1933 rund 500.000 Juden. Rund 350.000 sind emigriert, rund 150.000 wurden ermordet. Circa 50 Millionen Deutsche gegen 500.000 Mitbürger jüdischer Herkunft: circa 1 Prozent. Die allermeisten Deutschen hatten nie einen Juden gekannt, geschweige denn Umgang mit ihnen gehabt. Wer Juden in seinem Bekanntenkreis hatte, konnte sie schätzen wie andere Bekannte. Aber der Großteil der Bevölkerung war antisemitisch eingestellt. Warum? Weil ihnen kognitive Vorurteile indoktriniert wurden, verbunden mit verlogenen Physiognomien, die in der Schule gezeigt wurden, und mit verlogenen Theorien über jüdischen Charakter, über Erbgut und Rassereinheit. Auch die Ausländerfeindlichkeit nährt sich zuerst von Propaganda und Slogans wie dass sie Arbeitsplätze wegnehmen und krimineller seien als wir. Also von Indoktrination von Vorurteilen. Danach lassen sich die Ausländerfeindlichen ihre Vorurteile durch sinnliche Erfahrungen scheinbar bestätigen. Die wenigsten haben leibhaftigen Umgang und menschlichen Austausch mit ausländischen Mitbürgern. Wer ihn hat, hat die wenigsten Probleme mit ihnen. Der Umgang wäre also die beste Korrektur bzw. ließe die Feindlichkeit gar nicht erst entstehen. Wenn man etwas dafür tun will, "dass Auschwitz nicht noch einmal sei", kann die Ermöglichung einer erfahrungsträchtigen Lebenswelt ein Beitrag dazu sein, wenn man auch wissen muss, dass es nicht ausreichen wird. Ich stelle also die konsequente These auf: Sinnliche Tätigkeit und leibhaftige Begegnung sind Voraussetzungen für humane Beziehungsqualität. Die Umkehrung der These droht mit den Folgen der Vernachlässigung und scheint die Tendenzen zu spiegeln, auf die wir seit einigen Jahren erneut aufmerksam werden: Das Schwinden sinnlicher Tätigkeit und der Mangel an leibhaftiger Begegnung führen zum Mangel an humaner Beziehungsqualität und schließlich zu ihrem Verlust. Zu Hume oder zu einem neuem Sozialisationstyp (Hume'scher Typ) und Pädagogik der Sinne/des Erlebens Wo keine Erfahrung ist, bildet sich kein Selbst. "Biologisch und physiologisch unterscheiden wir uns nicht sehr voneinander", sagt der Neurologe Oliver Sacks. Als Selbst aber ist jeder von uns einzigartig. "Jeder von uns ist eine Biographie, eine Geschichte. Jeder Mensch ist eine einzigartige Erzäh­lung, die fortwährend und unbewusst durch ihn und in ihm entsteht - durch seine Wahrnehmungen, seine Gefühle, seine Gedanken, seine Handlungen und nicht zuletzt durch das, was er sagt, durch seine in Worte gefaßte Geschichte". Diese Ge­schichte müssen wir als innere Geschichte haben, um wir selbst zu sein. "Der Mensch braucht eine solche fortlaufende innere Geschichte, um sich seine Identität, sein Selbst zu bewahren"2 (154f.). Oliver Sacks und Ronald D. Laing, den ich noch heranziehen werde, haben mich auf die Frage gebracht, ob infolge des Mangels an Leiblichkeit und Erfahrung Störungen im Aufbau des Selbst entstehen. Ich weise ausdrücklich darauf hin, dass ich mit den folgenden Gedanken keine Beweisführung unternehme. Es sind lediglich Gedankenverbindungen aufgrund phänomenaler Ähn­lichkeiten zwischen den Krankheitsbildern Sacks, dem Verhalten mancher Jugendli­cher und der Baudrillard'schen Darstellung von Indifferenz und Simulation. Sacks schildert die Krankengeschichte des Mr. Thompson, der an einem Korsakow-Syndrom leidet und sich nicht länger als einige Sekunden an irgendetwas erinnern kann. Ein solcher Patient "muss in jedem Augenblick sich selbst (und seine Welt) buchstäblich erfinden"3. Mr. Thompson entwickelt ein geniales Fabuliertalent, um ständig und andauernd Unwirklichkeiten zu schaffen. Dabei macht O. Sacks Beob­achtungen, die er folgendermaßen beschreibt, und auf die kommt es mir hier an. Sacks spricht von einer Oberflächlichkeit oder Seichtheit des Lebens, zu der Thompson zwangsweise gelangt war. "Ich meine damit die Art und Weise, wie es (sein Leben) praktisch zu einer Oberfläche, einer brillanten, schimmernden, glitzern­den, sich ständig verändernden, aber doch eben nur zu einer Oberfläche, einer An­häufung von Illusionen, einem Delirium ohne Tiefe reduziert wird". Thompson zeige einen Verlust von Gefühl, "jenem Gefühl oder Urteilsvermögen, das zwischen 'wirklich' und 'unwirklich', 'wahr' und 'unwahr,..... wichtig und unwichtig, relevant und irrelevant unterscheidet. Seine unablässigen Konfabulationen .... haben letztlich etwas sonderbar Indifferentes ... als sei es im Grunde unwichtig, was er sagt oder was irgend jemand sonst sagt oder tut, als sei irgendwie alles unwichtig geworden"4. Alexander R. Lurija bezeichne dieses Erscheinungsbild mit "Nivellierung", sagt Sacks. Eine Patientin, die einen Gehirntumor hatte, zeigte diese Nivellierung ebenfalls in hohem Grade. "Nichts fühlte sich mehr 'wirklich' (oder 'unwirklich') an. Für sie war ... alles 'gleichbedeutend' oder 'gleich' - die ganze Welt war reduziert auf eine amüsante Bedeutungslosigkeit"5. Und auch diese Bedeutungslosigkeit bedeutete ihr nichts. Mit Worten Baudrillards gesprochen befand sie sich im Zustand vollständiger Indifferenz und Simulation. Im Vergleich von Phänomenen Hirngeschädigter mit Phänomenen heutiger Sozialisa­tion frage ich vorsichtig an: Sind wir auf dem Wege zu dieser Nivellierung, in der alles gleich gültig und folglich gleichgültig ist? Leben unsere Heranwachsenden ständig an neuen Oberflächen, leben sie in Untiefen im Sinne von Seichtheit, also ohne Tiefe von Erfahrung? Muss nicht gefragt werden, ob sich durch den schnellen medialen Wech­sel eine Haltung einstellt, die befähigt, an den Oberflächen zu leben, aber unfähig macht, tiefe Beziehungen zu Menschen und Sachen einzugehen? Ich schließe auch die Frage an, ob dieser Trend eine Verrohung bedeuten kann, ob die Ermangelung von Tiefe also Mangel an Seele ist? Oliver Sacks brachte mich zu der Frage, ob vielleicht die Jugendlichen wie jene Hu­me'schen Wesen sind, die dauernd im Strom von Bildern und Zeichen leben, ohne sie anbringen, einordnen, zuordnen, vertiefen zu können? Dauernde bloße Sinnesein­drücke ohne Verstand und Vernunft. Ich denke an die ungeheuer schnellen Schnitte in Spots, Clips und Filmen, z. B. MTV; hier ist keine Integration mehr möglich, weil die Geschwindigkeit des Leibes überschritten wird. David Hume hatte behauptet, wir seien nichts als "ein Bündel oder ein Zusammen verschiedener Perzeptionen, die einander mit unbegreiflicher Schnelligkeit folgen und beständig in Fluss und Bewegung sind". "Für Hume ist die persönliche Identität also eine Fiktion", folgert Sacks, "wir existieren nicht, sondern sind nur eine Abfolge von Sensationen und Wahrnehmungen". "Bei einem normalen Menschen ist dies jedoch offenbar nicht der Fall, denn er ist im Besitz seiner Wahrnehmungen. Sie sind nicht ein bloßes Dahinfließen, sondern gehören ihm und sind durch eine beständige Indi­vidualität, ein Ich, geeint"6. David Hume, der berühmte englische Rationalist und Positivist des 18. Jahrhunderts (1711 - 1776), hatte damit begonnen, die Bedeutsamkeit des lebendigen Erlebens zu unterschätzen, ja sie zu ignorieren. Empfindungen waren für ihn nur Daten von Eindrücken, aneinander gereihte Reize. Damit hatte er den Menschen als erlebendes Wesen theoretisch abgeschafft. Also suchte er vergeblich nach einem Ich, das von sich selbst als einem Selbst weiß. Erwin Straus kommt zu dem Schluss: "Hume hätte alles Recht, ‚das Ich’ einem Bündel von Vorstellungen gleichzusetzen, wäre seine vergebliche Suche nach dem Ich nicht erst durch die vorangehende Mutilation [Verstümmelung, d. V.] des Empfindens veranlasst worden. Hume und seine positivistischen Nachfolger verhalten sich wie ein Scharfrichter, der darüber erstaunen wollte, dass er an dem Rumpf des von ihm Guillotinierten keinen Kopf mehr entdecken kann.7 Hume hat die Sinnlichkeit theoretisch abgeschafft, mit der Entwicklung des Wertgesetzes und der Künstlichen Intelligenz wird sie allmählich praktisch abgeschafft. Sinnlichkeit gehört zur Leiblichkeit. Sie ist die Kommunikationsweise und Erlebensweise von Menschen als leiblichen Wesen. Hume und die Physiologen oder Psychologen irren, wenn sie Sinnlichkeit in einer Sammlung von Reizen aufgehen lassen, die in die Rezeptoren gelangen. Menschen leben nicht nur wie andere Organismen und Lebewesen, sie erleben auch. Und wenn das gesellschaftliche, technisierte Leben das Erleben mindert oder absterben lässt, dann müssen wir es bewusst wieder in unsere Lebensführung aufnehmen. Das kann auch ein bedeutsames Kriterium sein für die Erhaltung oder Schaffung von Spielraum in der Stadt, für Maßgeblichkeit von Lebenswelt. Jean Baudrillard8, französischer Philosoph und Soziologe, bescheinigt uns seit einigen Jahren, dass die erfahrungsträchtigen, bedeutungsstarken, leibhaftigen und warmen Beziehungen aufgrund der Herrschaft des ökonomischen Wertgesetzes immer mehr verschwinden. Das Wertgesetz habe eine neue Stufe erreicht, durchdringe alle Strukturen und habe zum Resultat, dass alles nivelliert und beliebig werde. Alle Waren und auch alles, was nicht Ware ist, erhält den Charakter des Flüchtigen und Austauschbaren. Danach sind wir auf dem Wege zu einer Nivellierung, in der alles gleich gültig und folglich gleichgültig ist. Leben viele Erwachsene und unsere Heranwachsenden bereits ständig an neuen Oberflächen, leben sie in Untiefen, also ohne Tiefe von Erfahrung? Muss nicht gefragt werden, ob sich durch den schnellen Wechsel eine Haltung einstellt, die zwar befähigt, cool an den Oberflächen zu leben, aber unfähig macht, tiefe Beziehungen zu Menschen und Sachen einzugehen? Ich schließe auch die Frage an, ob dieser Trend eine Verrohung bedeuten kann, ob die Ermangelung von Tiefe also Mangel an Seele ist? Und übrigens: Jugendliche suchen in ihren Subkulturen sehr auffällig die sinnliche leibhaftige Auseinandersetzung und Selbstdarstellung, auch da, wo sie gelegentlich Randale machen. Der Zug in die Fußballstadien und das Verhalten dort zeugen von Suche nach gelebter Welt, ebenso das Kneipen- und Szeneleben, die Discos, das Sprayen und solche Extreme wie das Bahnsurfen. Forschungsfeld Erleben Mit den vorgetragenen Gedanken sollte einiges deutlich geworden sein, was menschliche Leiblichkeit als Lebendigkeit betrifft. Doch ist auch deutlich geworden, wie sehr wir uns als Leibwesen noch ein Rätsel sind oder gar unerforschlich bleiben. Erleben ist ein Wort, das wir tagtäglich vielfach gebrauchen, und doch ist kaum zu sagen, was Erleben denn ist. Gerade das, wovon wir die sicherste Gewissheit haben, macht uns hilflos, wenn wir es erklären sollen. Denn Erleben kann nie zum Gegenstand gegenüber uns werden, wir sind immer im Erleben wie im Leben. Erleben ist eine besondere Qualität des menschlichen Lebens. Nicht nur leben, sondern das Lebendigsein bemerken: Erleben ist Wachheit, Bewusstheit, ein Kennen, Bekanntsein mit Leben. Wir nehmen nicht Reize wahr, sondern wir erleben. Wir erleben Gegenstände, Lebewesen, Vorgänge, Menschen. „Reize sind keine Gegenstände“ (Straus). Wie arm mutet die Reiz-Reaktions-Theorie an. Zum Erleben kann sie nichts beitragen. Noch einmal Straus: „Das Verhältnis eines erlebenden Wesens zur Welt ist grundverschieden von der Beziehung eines Organismus zum Reiz“9. „Erlebende Wesen sind in einem einzigartigen Verhältnis zur Welt und können nur in einem solchen Verhältnis ihre Existenz vollbringen“10, das heißt ihr Leben führen. Der Mangel an Erklärlichkeit und die Unvorstellbarkeit müssen uns nicht schrecken. Sie sind kein spezielles Problem der Geisteswissenschaft und der Lebensforschung. Die grundlegenden Begriffe der theoretischen Physik sind (noch) ebenso unerklärlich und unvorstellbar: Energie, Kraft, Masse, Gravitation. Die philosophierende Lebensforschung aber hat den Gehirnforschern voraus, dass sie letzteren unerlässliche Aufgaben in Erinnerung bringt, wenn sie über ihre Forschung Leiblichkeit und Menschlichkeit nicht abschaffen wollen. Sie müssen sich immer wieder daran erinnern lassen, dass es ihre vornehmste Aufgabe ist, zu erforschen und uns zu erklären, wie es der Physis gelingt, subjektives, bewusstes Erleben zu erzeugen. Wie erklärt sich die helle Freude darüber, dass ich lebe; wie die Lust und die Last, Mensch zu sein. Das Schwinden der Sinne und der Leiblichkeit sind im Gange, noch bevor Wissenschaft geklärt hat, was Erleben und Bewusstheit sind. „Künstliche Intelligenz“ und Biochips könnten mit der Leiblichkeit das Erleben abschaffen. Die cartesianische Maschine wäre dann nicht mehr nur eine Auffassung, sondern Wirklichkeit. Ich wähle aber einen anderen Schluss-Satz. Lebensforschung und Philosophie der Leiblichkeit können ganz persönliche, subjektiv bereichernde Früchte tragen. Schon eine einfache Besinnung auf unsere Sinne führt zu höherer Beziehungsqualität zu Dingen und Menschen und zu einer Bewusstheit des Erlebens, das ganz intensives Leben ist. „Unser Verhalten ist eine Funktion unserer Erfahrung. Unser Handeln entspricht unserer Sicht der Dinge. Wenn unsere Erfahrung zerstört ist, wird unser Verhalten zerstörerisch sein. Wenn unsere Erfahrung zerstört ist, haben wir unser eigenes Selbst verloren.“ 11 Beiträge der Lebensphilosophie, Philosophie des Lebens, Biophilosophie, Lebensforschung Ausgang vom Leben, statt von Materie oder Geist. Durchbruch zur subjektorientierten Wissenschaft oder zur Wissenschaft vom Subjekt. Verhinderung des Wegdiskutierens von Subjekt, Bewusstsein und Erfahrung. Erklären und verstehen. Werden statt Sein. Erlebnis als Erfahrungseinheit. Menschliches Leben innerhalb des gesamten Lebensprozesses. Lebensbejahung anstelle von oder trotz Geworfensein/s. (Bollnow: Seinsvertrauen).