Texte zum Seminar: Zur Rehabilitierung von Lebenserfahrung 1. H. Schmitz: Die Rehabilitierung der Lebenserfahrung. In: Höhlengänge. Über die gegenwärtige Aufgabe der Philosophie, Berlin 1997, S. 23 - 33 Präparation Die Rehabilitierung der Lebenserfahrung (als Erfahrung der Lebendigkeit des Lebens) 1. Funktion der Disziplin in Hochkulturen: Stabilisierung und Aufrechterhaltung – Vorderasien: Autorität – China: Konventionen – Europa: eigenes Urteil, Selbstbemächtigung Knapper Einstieg in die Phänomenologie der Situationen zur "Beleuchtung der für die europäische Intellektualkultur entscheidenden Bruchstelle" (S. 26) 2. Situation (Neudefinition) 3. Eindruck als impressive Situation 4. aktuelle und zuständliche Situationen 5. (Ziel des knappen Einstiegs:) Hochkulturen mit Begriffsbildung aus vollständigen Eindrücken 6. (Im Gegensatz zu diesen:) Europas Intellektualkultur folgenreichstes Modell: feste Körper (mit Eigenschaften – ihrer Situation beraubt – Folgen: Psychologismus, Reduktionismus, Introjektion. – Verluste: Situation, Atmosphäre, Leib 7. Seele – Innenweltdogma 8. Vorteile: Selbstbemächtigung, Weltbemächtigung 9. Schwerwiegende Einbußen: Verflachung 10. Richtlinien für die gegenwärtige Aufgabe der Philosophie 11. Vorleistungen der Neuen Phänomenologie von Hermann Schmitz 2. Ampelchoreographie: Menschen an einer Fußgängerampel Foto von Helmut Fricke, Frankfurter Allgemeine Zeitung Der genaue Ort (Paris) ist unwichtig, die Bilder gleichen sich in Westeuropa. Alle las­sen sich durch die Ampel am Zebra­streifen in ihrer freien Bewegung auf ihr Ziel hin aufhalten. Sie sind sich in ihrem Verhalten alle ähnlich und doch bewäl­tigt jede/r den Aufenthalt auf eigene Weise. Was sich hier abspielt, ist aus dem Sinn eines gesellschaftlichen Zu­sammenhangs erzeugt und zugleich jedes Einzelnen getaner Sinn (Einkauf, Anhalten, Warten, Schauen, Sinnen, allein und für sich sein, zu zweit im Ge­spräch). Was vorherrscht ist alltäglicher Sinn; dass jedem sein Tun sinnvoll er­scheint, ist im Anschauen gegenwärtig. Der Sinn des Tuns offenbart sich dem Betrachter durch die Verkörperung der einzelnen: der Modus des Innehaltens, der Blick und Gesichtsausdruck, die Haltung und Bewegung, die Weise, Gepäck zu tragen, die Selbstvergewis­serung in der Situation sind dem Ein­druck des Betrachters als sinnhafter Ausdruck gegeben. Die Füße und Beine der Personen in der ersten Reihe sind so wenig Gestelle (oder Stützapparat) wie die Gesichter bloße Masken sind. Als Maske erscheinen die Gesichter, weil sie in dieser Situation nicht zuviel von sich preiszugeben bereit sind. Sie befinden sich in der Öffentlichkeit und stellen ihr Befinden auf diese ein. Was sie an Potential von Lebendigkeit dar­über hinaus sind, liegt im Verborgenen, lässt sich aber ahnen. Die angedeutete scharfe Trennung zwischen Öffentlichkeit und Privatheit ist ein historisches Moment des Bildes, nicht zu allen Zeiten verhielten (und nicht an allen Orten verhalten) sich Menschen in der Öffentlichkeit so ver­halten. Sie stellen kaum eine soziale Rolle dar, lediglich Passant, Verkehrs­teilnehmer, Käufer und Verbraucher zu sein; sogar ob Mann oder Frau ist hier nicht ausschlaggebend. Sie verhalten sich möglichst unauffällig. Nicht aufzu­fallen, ist Bestandteil ihres öffentlichen Verhaltens (das sich in den großen Städten seit der 2. Hälfte des 19. Jahr­hunderts herausgebildet hat). Die Men­schen auf diesem Bild sind sich fremd, sie sprechen nicht miteinander, bis auf zwei, die vielleicht ein Paar sind. Die Passanten nutzen auch den Aufenthalt nicht für ein Gespräch, obwohl es ja sinnvoll sein könnte. Menschen, die im Straßenbild auffallen, stellen meist etwas dar: Straßenmusi­ker, Artisten, Redner, Demonstranten, auch Bettler, oder sie spielen eine Be­rufsrolle wie Polizisten oder Eisverkäu­fer. Wenn sonst jemand in der Öffent­lichkeit auffällt, dann wahrscheinlich deswegen, weil er vorübergehend aus der Passantenrolle fällt. Unser Bild zeigt keine auffälligen Personen. Aber sie verkörpern sich dennoch: aufgrund ih­rer Lebendigkeit. Dabei verbergen sie eher ihre persönliche Geschichte, of­fenbar werden nur Gestimmtheiten, Lebensalter und die individuelle Weise der Situationsbewältigung. Auch das ist spannend. Als Rest von Selbstdarstel­lung (bewusste Verkörperung) bleiben Kleidung, Frisur, Accessoires. Die Ni­vellierung aber, die auch durch die Be­kleidungsindustrie entstand und sich in ihr spiegelt, zeigt sich im Bild deutlich. Dennoch gilt die Metapher von Straße und Bühne auch für dieses Bild, für uns als Betrachter dieses stillgestellten Momentes erst recht. Würden wir das im Bild Festgehaltene life erleben, könnten wir den Eindruck einer Cho­reographie haben. Weil jede Bewegung eine Funktion und Sinn zugleich hat, beschreiben die Körper ein Raumver­hältnis, das bühnenreif ist. Eine Insze­nierung auf der Theaterbühne, z. B. Peter Handkes Stück „Die Stunde, da wir nichts voneinander wussten“, in wel­chem die Akteure fast nur über einen Platz gehen, müsste sich an der „Choreographie“ orientieren, die dieses Bild zeigt. 3. Wie die Stadt die Menschen gehen macht, und wie die Menschen sich verkörpern Mit dieser Übung wollen wir versuchen, in besonderer Aufmerksamkeit unter die Menschen in der Stadt zu gehen: teilnehmendes Anschauen. Nicht beobachten, wie Detektive es täten, nicht ausspähen, sondern die Eindrücke auf uns wirken lassen. Also möglichst nicht neugierig hingucken, sondern „ins Auge fallen lassen“. Die Menschen – einzeln, zu Paaren, insgesamt wie ein Ensemble – verkörpern hier meist nicht ihre Berufsrolle, sondern eher sich. Wo Sie Menschen in ihrer Berufstätigkeit sehen, können Sie ebenfalls Ihre Aufmerksamkeit auf den Eindruck beschränken. Sie lassen sich vom Ausdruck beeindrucken, statt zu urteilen. Das Schauen ist so interessant und spannend, weil Sie unmittelbar von dem Ausdruck angesprochen werden (Ausstrahlung). Die Verkörperung lässt die Menschen in ihrer individuel­len Menschlichkeit zur Wirkung kommen. Das Gewahren, das in dieser Übung gesucht wird, liegt vor verbaler Kommunikation. Sie brau­chen selber auch nicht bewusst sprachlich zu denken; überlassen Sie sich unangestrengt einer Mi­schung aus Empfinden, Wahrnehmen und Erkennen (d. i. Erleben), was sich bei der nötigen Gelassenheit wie von selbst einstellen wird. Dann werden Sie dieser Menschen durch das Anschauen ihrer Gestalt, Bewegungen, Tätigkeiten, Modi, Gesten, Gebärden und Mimik gewahr. Sie denken also noch nicht reflektierend nach, Sie urteilen und beurteilen nicht. So nehmen Sie menschliche Lebendigkeit wahr, die den sozialen Rollen und Positionen, den Zielen und Absichten zugrundeliegt. Das teilnehmende Schauen ist unauffällig möglich, weil alle ihrem Interesse oder Zeitvertreib nachgehen. Schauen ist übrigens noch nicht Blicken oder Anblicken, wie wir es in einer per­sönlichen Begegnung tun. Sie bemerken den Unterschied sofort, wenn jemand Sie anblickt, weil er/sie Ihr teilnehmendes Schauen als Blicken auffasst. (Blicke haben unterschiedliche Verbindlichkeit: vgl. kurzes An- oder Aufblicken mit einem etwas längeren Blick, einem zu langen Blick.). „Urbanes Gehen“ oder „Stadtmeditation“ heißt diese Übung, weil die Menschen sich dem städti­schen Raumverhältnis entsprechend bewegen. „Stadtmeditation“ kann diese Aufmerksamkeit genannt werden, weil Sie nicht beobachten, sondern achtsam sind: das ist mit Wahrnehmen als Gewahrwerden gemeint. Im Gewahrwerden können Sie sich selbst unwichtig werden, indem Sie Ihre Aufmerksamkeit einfach auf Andere und Anderes richten. Vielleicht versammelt sich dabei in Ihnen neue Energie, denn Sie leben und erleben: Sie erfahren menschliche Lebendigkeit. Und vielleicht kommt eine frohe, offene Gestimmtheit auf. Sie können bis zu einer Wahrnehmung gelangen, die diese Menschen liebenswürdig erscheinen lässt, und es entsteht eine gewisse Solidarität. Vielleicht auch eine Lust, Mensch zu sein. In dieser Haltung werden Sie um vieles fähiger sein, Menschen vorurteilslos zu begegnen. Ausstellungsbesuch: Ich ist etwas Anderes (Kunstsammlung NRW, Düsseldorf) Als Teil des Seminars „Zur Rehabilitierung von Lebenserfahrung“: Erfahrung von Lebendigkeit, die zusammen die eigene Lebensgeschichte ist. In dieser Lebenserfahrung ist das Ich etwas Anderes als ein Abstraktum. 1. Leben und Erleben als das Primäre, Wissenschaft als Sekundäres Jede Wissenschaft hat als notwendige Bedingung, dass sie etwas aus dem Lebenszusammenhang herausnimmt und als Objekt untersucht, für sich genommen (isoliert), abgetrennt von seinem Wirkungszusammenhang und ohne Bezug zum untersuchenden Subjekt. Vorher war Leben, Relation/Beziehung, Gegenüber statt Objekt, Begegnung statt Entfremdung. Auch wir machen das hier im Seminar so, insoweit es wissenschaftliches Tun und Denken ist: analysieren, zergliedern, auflösen (mit Hilfe der Texte, die wir lesen). Es handelt sich bei unserem wiss. Gegenstand um einen besonders schwierigen deshalb, weil er kein Ding ist, sondern subjektive Tätigkeit lebendiger Menschen. Und wir untersuchen diesen Gegenstand aus einem pädagogisch-praktischen Erkenntnisinteresse: um der Rehabilitierung von Lebenserfahrung willen. Deshalb hieß beim Ausstellungsbesuch die Devise: nicht zuerst die Kunstwissenschaft zu Rate ziehen – sie objektiviert die Kunstwerke –, sondern sich ergreifen lassen: Wahrnehmung von Bildern, Videos und Installationen aus der eigenen Lebenserfahrung heraus, die man mit sich trägt. Zu dieser Devise passt das emphatische Wort von George Steiner aus seiner Ästhetik-Theorie: (in: Von realer Gegenwart, München 1990): "In einem gänzlich fundamentalen, pragmatischen Sinne werden das Gedicht, die Statue, die Sonate nicht so sehr gelesen, angeschaut oder gehört als vielmehr gelebt. Die Begegnung mit dem Ästhetischen ist neben bestimmten Arten religiöser und metaphysischer Erfahrung der >ingressivste< Aufruf zur Wandlung, zu dem menschliche Erfahrung fähig ist" (S. 190). Wahrnehmung als Gewahrwerden ist nicht zuerst Urteilen. Bertolt Brecht: "Unsere Erfahrungen verwandeln sich meist recht rasch in Urteile. Diese merken wir uns, aber wir meinen, es seien Erfahrungen." (In: zur Lippe, Neue Betrachtung, S. 234). Wahrnehmen ist Einfühlung in einen Zusammenhang, deshalb aber nicht subjektives Gespinst, sondern Einlassung auf etwas Gegebenes; es ist pathisch und gnostisch, eine sinnliche Erkenntnisform. 2. Versuch, dies an einigen Beispielen zu veranschaulichen a) Das Titelvideo (Danica Dakic, Autoportrait, 1999, Videoinstallation) Ein Frauengesicht sehen, Stimme hören. Helle, gold-gelbe Kopf-Hals-Schulterpartie, auf dunklem Grund, zwei rote Münder, deren Lippen sich bewegen, möglicherweise zur Stimme gehörig. Der eine Mund dort, wo man ihn bei Menschen erwartet, oberhalb der Nasenwurzel ein zweiter Mund. Fremdes Wesen. Fern, entrückt. Die Monotonie der Stimme und dies enthobene, überindividuelle Wesen. Unvertraut, aber verbindbar mit Bekanntem: Frau, Frauenstimme, eine bestimmte Frau, monotones Sprechen, Erzählen? Welche Sprache ist das. Einige Wörter sind deutsche Sprache. (Liegt die Unverständlichkeit an der Technik? Hier ist es auch nicht still genug für eine Begegnung.) Wie lange kann ich mich dem aussetzen? Hierbleiben? Weggehen? Gemischte Gefühle. Wo sind die Bezugspunkte zwischen mir und dem da? Ich sehe. „Sie“ spricht. Ich schweige, „sie“ kann nicht sehen. Spricht „sie“ mich an? Ich stehe leibhaftig auf dem Boden, das da ist eine Erscheinung, für mich und andere. Und diese Erscheinung spricht. Blinde Seherin? Was hat sie denn zu sagen? Ich verstehe doch kaum etwas. Will sich mir denn jemand mitteilen? Bin ich gemeint? Jetzt geht es wieder von vorne los, das Sprechen. Horchen, ob ich jetzt etwas verstehe. Das Bild brauche ich dabei eigentlich nicht. Oder doch? Nofrotete, Mona Lisa, Plappermaul. Soll ich gehen? 190 Exponate. Kunst ist das ganz Andere, aber mitten in der Betriebsamkeit von Gesellschaft, Arbeit und Markt, – in deren Zeittakten. Für meine Eigenzeit müsste ich noch hierbleiben. Aber es gibt ja Information, Erkenntnis anderer, die wir uns von der Kunstpädagogin sagen lassen können. Diese geht auch auf Wahrnehmung ein, sagt dann aber vieles, was hier am Ort nicht wahrnehmbar ist. Wir können es nur über diese Deuterin in Erfahrung bringen. Währenddessen verwandelt sich das da zu einer Videoinstallation der jugoslawischen Künstlerin Danica Dakic, die zuletzt in Düsseldorf studiert hat und dort lebt. Wir hören auch etwas über den Inhalt des Gesprochenen: zwei inhaltlich ähnliche Geschichten in zwei Sprachen, beide handeln vom Wahrnehmen. Aha. Am Anfang verführte die Ungeduld zum Weggehen, jetzt verführt die Information zum Ablegen ins Wissensfach. Wie lässt sich beides zu einer Erfahrung verbinden? b) Shirin Neshat, The Shadow Under the Web, 1997 Eine Frau läuft durch eine orientalische Stadt. Die anderen Menschen gehen, sie läuft. Das Tempo der anderen ist manchmal sogar verlangsamt, gedrosselt, Zeitlupe. Sie joggt aber nicht eigentlich. Sie läuft vor etwas weg, irrt durch die Straßen, Gassen, Bazars, an Gemäuer entlang. Offenbar ziellos. Sie trägt das Gewand, das ich von den Türkinnen kenne. Ihr Gesicht kann ich sehen, es ist nicht verhüllt. Sie scheint nicht geängstigt oder traurig. Sie scheint zu wissen, was sie tut und will. Dunkle Augenpartie, gelegentlicher Blick, aber sie sieht niemanden an, auch mich nicht. Sie hat keinen Kontakt zu den anderen. Sie erscheint anders als die anderen: Fremdkörper in dieser Stadt, in ihrer Stadt? Das kommt mir unheimlich, gehetzt, verfolgt vor. Wieder der Widerstreit der Tempi. Und die ganze Szene scheint sich jetzt zu wiederholen. Ich bin mit dem Geschehen verbunden: über meine Gefühle. Auch durch die Bewegung des Laufens. Diese Motorik hat Resonanz in mir. Aber ich gehe nur sehr langsam in diesem Raum, eher so wie die anderen Menschen in den Bazarstraßen. Die Szenerie hat etwas Ergreifendes. Wann bin ich außer in Träumen so gelaufen, weggelaufen, geflohen, umhergeirrt? Gibt es kein Ankommen? Hat sie kein Zuhause? Wie sähe das aus, wenn ein Mann so liefe? Warum bedeutet das etwas für mich, dass sie Frau ist? Was bedeutet das? Es bewegt mich anders, als wenn es ein Mann wäre. Aber dass in dieser orientalischen Gegend ein Mann so liefe, wäre ja vielleicht noch seltsamer. Ein Bote möglicherweise, ein Sklave, Polizisten, Kriminelle, aus dem Gefängnis Ausgebrochene, aber ein normaler Mann? Die haben es vielleicht nicht nötig? Jedenfalls scheint das bedeutsam: eine Frau in dieser herr-schaftlichen traditionellen Kleiderordnung läuft und läuft: für sich, stolpert nicht, bricht nicht zusammen. Sie wird es schaffen. Wir hören dann: Es ist Shirin Neshat, geboren 1957 im Iran, lebt in New York, Künstlerin mit Starkarriere usw. c) Maria Lassnig, Selbstportrait als Ungeheuer, 1964 Was für ein Wesen! Warm rot-violett die Haut, vor blauem Hintergrund oder blauem Himmel. Menschenähnlich, aber eher ein Hund von Mensch. Oder? So ein Hund, so ein Biest, so eine Missgeburt von Mensch, so eine Ausgeburt des Bösen. Wobei mir bestimmte Menschen einfallen. Augen und Mund betont. Etwas geschunden vielleicht? Aber auch unberechenbar. Dem möcht ich nicht im Dunkeln begegnen. Schon wenn sich die Augen öffnen, wird sich das Monster verraten. Ich ist etwas Anderes, heißt die Ausstellung. Mal sehen, was auf dem Schild steht: Maria Lassnig, Selbstportrait als Ungeheuer. Au. Und ich? Bin ich auch ein Ungeheuer oder steckt es in mir? In jedem steckt ein Ungeheuer. Tröstlich. d) Dan Graham: Two-Viewing-Rooms (1975) Ich gehe vorsichtig in den Raum. Auf der rechten Seite spiegelt sich alles bis ins Unendliche, ich auch, ich gehöre zum Inventar. Zur Linken auf dem Monitor vor der Glasscheibe bin ich auch zu sehen. Mein Spiegelbild? Nein, da stimmt was nicht. So kenne ich mich nicht, das heißt, es ist nicht mein Spiegelbild. Aber ich hab’s schon mal erlebt. Das Spiegelbild ist gewendet. Deshalb komme ich mir fratzenhaft vor, schief. So bin ich nicht. Aber halt. Ich hab' mich an das Spiegelbild gewöhnt. Die anderen sehen mich so, wie ich mich jetzt dort sehe. Manche mögen mich anscheinend leiden, wie ich mich nicht leiden mag. Aber sie haben keine andere Wahl. Trotzdem. Irgendwie seltsam. So sehe ich aus? Jetzt gucke ich noch blöder. Raus hier. Im andern Raum sehe ich Leute dort, wo ich eben war, und die wissen das nicht. Aber als ich drüben war, haben die doch auch mich gesehen, – Unverschämtheit, Bloßstellung. Ich bin beklaut worden, halbnackt. Privare heißt berauben. Im Persönlichen beraube ich die öffentlichen Anderen der Möglichkeit, mich wahrzunehmen: darum heißt es privat. Hier ist das aufgehoben. Bloßstellung. Aber nun kitzelt mich die Lust des Voyeurs: ich sehe die anderen, die mich nicht sehen. Ich bleib noch etwas. e) Daniel Canogar, Obszönität der Oberfläche, 1999 Haut. Ganz nah. Nein, ganz groß. Zu groß? Zum Reinlegen. Zum Reingreifen. Fühlbar. Durchs Sehen fühlbar. Eine Fühl-Bar des Sehens. Haut ist die Umgrenzung meiner selbst als Körper oder Leib. An ihr werde ich berührt und fühle ich mich berührt. – Die verschiedenen Körperzonen, Leibesinseln. Sprachlosigkeit, sehr zugunsten des Fühlens, des Gefühls, der Fühlungnahme und Fühlung-gabe. Meinen Freund fasziniert das Projektionsgerät mehr als die Haut. Warum? Versteh' ich nicht. Oder? Hat er mit Haut schlechte Erfahrung gemacht? Oder gar keine? Woher aber kommt hier das Befremdende? Es ist wie Hauterfahrung, aber übertrieben. Es überschreitet das Maß menschlichen Hauterlebens. Plötzlich scheue ich mich, mein Fasziniertsein zu offenbaren, während andere im Raum sind. Im Halbdunkel. Scham. Was wir mit Scham meinen, spielt auf beiden Seiten eine Rolle: in der Vergrößerung und in der Betrachtung. Hier ist etwas vergrößert, was nur in leiblichem Maß menschlich erfahren werden kann, und was mit seiner Veröffentlichung in Übergröße Schaden nimmt. Der Titel der Installation bestätigt es: Die Obszönität der Oberfläche. Obszön heißt: das Schamgefühl verletzend. (Von lat. caenum: Schmutz, Kot, Unflat. Daraus obscenus: anstößig, unanständig, abscheulich). Das bezieht sich doch wohl auf die Haut. Oder ist jede Oberfläche obszön? Fazit zum Titel der Ausstellung im Bezug auf unser Seminarthema: Ich ist etwas Anderes. Was denn Anderes? Was ist das Andere? Das Andere ist die Lebenserfahrung. Die Lebensgeschichte, die das Erleben in sich versammelt, sedimentiertes, in Schichten abgelagertes Erleben. Wir haben es nur im Erinnern und Erzählen. Das Ich dagegen ist ein aus-gesprochenes Abstraktum, dem die Ablagerungen nie in einem Moment gegeben sind. Sie sind uns in die Leib- und Lebensgeschichte eingeschrieben. Kunst kann so abstrakt wie das Ich nicht sein, schon gar nicht, wenn es um Bilder des Selbst geht. Darum können die Kunstwerke in Korrespondenz zu unserer eigenen Geschichte treten. Das haben wir in der Situation Kunst in Weitmar erlebt: Die Räume begannen erst zu sein, was sie sein können, als wir mit unserer Geschichte in ihnen waren, zu ihnen gehörten oder sie zu uns. Lebensgeschichte äußert sich auch im urbanen Gehen. Odo Marquard: „Erfahrung aber ist das Remedium gegen die Weltfremdheit, und zwar, wenn ich richtig sehe, das einzige.“ In: Krise der Erwartung, Stunde der Erfahrung, S. 81. In: Skepsis und Zustimmung, Stuttgart 1994, S. 70 – 92.