Texte zu Seminaren: Raum und Atmosphäre erleben 1. Otto Friedrich Bollnow, Mensch und Raum. Einleitung 1. Zur Geschichte der Fragestellung Vgl. mit der Zeit-Philosophie: erlebte Zeit - obj. messbare Zeit (Bergson, Simmel, Heidegger, Sartre, Merleau-Ponty) Philosophie des Raumes zunächst Stiefkind im Verhältnis zur Philosophie der Zeit, wohl brachten Psychologie und Pathologie Arbeiten zum gelebten Raum: Graf Dürckheim 1932, Straus 1930/60, Binswanger 1933, Minkowski 1936. Philosophische Arbeiten von Cassirer 1923 - 29 und Lassen 1939 fanden unverdientermaßen wenig Beachtung. (B. erwähnt nicht, dass Cassirer 1933 als Jude seine Professur in Hamburg verlor und danach in Oxford, in Göteborg und in New York lehrte.) Die Arbeiten von Buytendijk 1954 und Bachelard 1958 (dtsch. 1960) werden in Deutschland aufgegriffen. Von da an - so Bollnow - stehe die Raumphilosophie gleichberechtigt neben der Zeitphilosophie. Bollnow benutzt alle genannten Werke. 2. Die Abhebung vom mathematischen Raum Wie bei der Zeit sind auch hier unterscheidbar: der phys., math. Raum der erlebte, gelebte Raum messen erleben dreidimensional konkrete Lebensbezüge meist bewusst: Abmessungen, Möbel unbemerkter Umraum, nicht identisch mit math. Raum NW-Begriffe GW-Begriffe Erklärung Bedeutung Subjekt-Objekt-Verhältnis "Interaktions"-Verhältnis Text S. 17 f. Punkte 1 - 8 3. Der Begriff des erlebten Raums "Erlebter Raum" meint Raum, wie er sich dem konkreten menschlichen Leben erschließt. Graf Dürckheim spricht vom "gelebten" Raum. Diese Form hat sachliche Vorteile, ist aber nach B. in der dtsch. Sprache nicht möglich. Vorteile S. 18 Erlebter Raum meint nichts bloß Subjektives. "Dieser erlebte Raum ist ..... nichts Seelisches, nichts bloß Erlebtes oder Vorgestelltes oder gar Eingebildetes, sondern etwas Wirkliches: der wirkliche konkrete Raum, in dem sich unser Leben abspielt" (S. 19). Der Bezug zum erlebten Raum ist dialektisch. Er gehört zum Menschen als Ermöglichung menschlichen Lebens und bedroht oder hemmt es auch. Zitat Dürckheim nach B. S. 20. Gegen Bachelard: Poetik des Raumes. Nach ihm enthält die Erfahrung des erlebten Raumes keine objektive Erkenntnis. "Er deutet sie darum als etwas bloß Subjektives, nämlich als Werk der dichterischen Einbildungskraft" (S. 21). 4. Die Räumlichkeit des menschlichen Lebens Räumlichkeit meint hier das Raumverhältnis, in dem menschliches Leben immer steht, es gehört zur Struktur des menschlichen Daseins: Raum haben und räumlich sein. Nicht weil wir Körper sind, wie jedes andere Ding oder Lebewesen auch, also Raum einnehmen oder brauchen. Sondern gemeint ist das Verhältnis und das Verhalten zum Raum. "Im Raum sein" ist nicht nur ein geometrisches Vorhandensein, sondern eine Verhältnisbezeichnung, dass wir immer in einem bestimmten bedeutungsvollen Raumverhältnis leben. Genau das ist gemeint mit "erlebtem" oder "gelebtem" Raum. Der math. Raum entsteht eigentlich erst durch Subtraktion des erlebten Bezuges. "Dabei ergibt sich der mathematische Raum aus dem erlebten Raum, indem man von den verschiedenen konkreten Lebensbezügen absieht und das Leben auf ein bloßes Verstandessubjekt reduziert" (S. 23). 2. O. F. Bollnow, V. Die Räumlichkeit des menschlichen Lebens. (Aus: Ders., Mensch und Raum, Stuttgart u. a. 71994, S. 271 - 310) Seminarpräparation 1. Im-Raum-Sein und Raum-haben 1. Der Ansatz bei der Intentionalität 1 2 3 4 5 6 2. Der Raum als Medium 1 2 3 4 3. Weisen des Raumgefühls 1 2 3 4 5 4. Das Wohnen 1 2 3 4 5 6 7 7.1 7.2 7.3 7.4 7.5 8 5. Raum-haben 1 2 3 4 5 6. Der Eigenraum 1 2 3 4 2. Formen des Eigenraums 1. Drei Bereiche des Wohnens 1 2 3 4 5 2. Der Leib 1 2(a) 3 4 5(b) 6 7 8 9(c) 10 11 12 13 14 3. Das Haus a) Die Inkarnation im Haus 1 2 3 4 5 6 b) Die Verwandlung des Menschen im Haus 1 2 3 4 5 c) Das Territorium der Tiere 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 4. Der Freiraum 1(a) 2 3 4 5 6 7(b) 8 9 10 11(c) 12 13 14 3. Zusammenfassung und Ausblick 1. Modifikationen der Räumlichkeit 1 2.1 2.2 2.3 2.4 2. Der Vorrang des bergenden Raums 1 2 3 3. Forderungen für das wahre Wohnen 1. Forderung 2. Forderung 3. Forderung 3. Pädagogische Ästhetik und politische Aufmerksamkeit Nachgedanken Warum müssen wir uns nach so schönen Erfahrungen in der „Situation Kunst“ in das „schmutzige“ Gefilde der Politik begeben? Warum immer wieder der Zusammenhang von Pädagogik und Politik? Warum darf eine kritische Erziehungswissenschaft auch in ihrer Äußerung als „Pädagogik der Sinne“ und als diese Form einer „Wendung aufs Subjekt“ (Adorno), auf Bildung unseres Selbst (als Mitsein) nicht zu einer „Insel der Seligen“ werden? Wer eine solche Insel gefunden hat, soll Kraft holen, muss aber zurück. Die „Situation Kunst“ ist auch die Situation der Kunst auf einem Kunstmarkt der Eigentumsmarktgesellschaft globalen Ausmaßes, in der Situation der Herrschaft des Wertgesetzes. In der Ästhetik der Stadt kam es zum Vorschein. Wir müssen politisch aufmerksam sehen und mitmerken, in welchem Kampf um Kopf und Körper unser Lernen, Denken und Tun steckt. Sonst merken wir auch nicht, wie die Rechten, die Antidemokraten und Vernichter der mühsam errungenen Humanität unsere Bemühungen um Leben, Lebendigkeit, Einheitserfahrung vereinnahmen, wie es ähnlich in der Lebensreformbewegung der Weimarer Republik der Fall gewesen ist. Hierfür im folgenden einige Belege. 1. Beispiel: Nah an Folkwangs Tanzgeschichte Die AusdruckstänzerInnen haben „dem neuen Tanz selbst das Todesurteil ausgesprochen, indem sie die ehemals kulturkritischen Ideen an die faschistischen Ideen der Massenaufmärsche anpassten. Dieser Entwicklung leistet nicht nur die politische Naivität weiter Teile der Tänzerschaft gegenüber den faschistischen Machthabern Vorschub; vielmehr war in der Lebensphilosophie der Ausdruckstanzbewegung selbst dieser Weg von Anfang an vorgezeichnet. Die einseitige Vorstellung einer Verbundenheit des Menschen mit dem Kosmos hatte eine Ignoranz gegenüber der gesellschaftspolitischen Realität zur Folge. Zugleich führte die Überbetonung des Individuellen und dessen Gleichsetzung mit Naturhaftem zu einer Fehleinschätzung individueller Handlungsweisen und -motive, die ja im wesentlichen der zivilisationsgeschichtlichen Geprägtheit und sozialen Eingebundenheit des Menschen entspringen“ (Gabriele Klein, Individuum und Freiheit. Vom Tanzverständnis im Ausdruckstanz. In. tanz aktuell 6 (1991) 2, S. 6 - 11, Zitat S. 11). 2. Beispiel: Hugo Kükelhaus Text aus: Dieter Hoffmann-Axthelm, Brauchbare Sinnlichkeit. Kurzer Problemkatalog zu Kükelhaus. In: Arch +, Dez. 1984, S. 56 - 58; Zit. S. 56f. „Man täte Kükelhaus sicher Unrecht, wenn man meinte, er wäre ein liebevoller Spinner gewesen, den die Nazis zu brauchen verstanden. Man täte ihm da genau so Unrecht, wie wenn man ihn platt beschuldigte, Nazi gewesen zu sein. Sondern wir kommen hier zu einer anderen, viel handfesteren Ebene der Kükelhaus'schen Unentschiedenheit, seiner 'Balance'....“. 3. Beispiel: Über die Schwierigkeiten der Ökologiebewegung mit dem rechten Rand. Thema des Heftes 34 von „Politische Ökologie“ 11 (1993) Nov./Dez. „Es gibt zu denken, dass keine der neuen rechtsextrem-neofaschistischen Gruppen auf ökologische Programmpunkte verzichtet. Bemerkenswert ist ebenso die Tatsache, dass sich Teile der Ökologiebewegung auf dieselben Vordenker berufen wie Gruppierungen der Neuen Rechten und des Neofaschismus" (Justus H. Ulbricht, S. 7). Vgl. z. B. „Der WSL: außen grün und innen braun?“ S. 10. (WSL= „Weltbund zum Schutze des Lebens“). 4. Beispiel: „Aktuelle Vereinnahmung Rudolf Steiners durch rechtsstehende Kreise“: Dieter Rüggeberg, Geheimpolitik - Der Fahrplan zur Weltherrschaft, Wuppertal 1990. Vgl. Flensburger Hefte, Anthroposophie im Gespräch, Sonderheft Nr. 8, Sommer 1991: Anthroposophen in der Zeit des deutschen Faschismus. Zur Verschwörungstheorie. 4. Ästhetische Revolution? Aus: Josef Fellsches, Sinnlichkeit. Fragmente zu einer Theorie, Essen 1989 „Das verlorene und wieder zu findende Paradies“ ‑ Ästhetische Revolution? So lautete der Tafelanschrieb als Titel der letzten Sitzung eines Seminars zu Theorie und Kultur der Sinne. Die anfängliche Verblüffung wich allmählich den Erinnerungen und Erklärungen. Der erste Teil des Tafelanschriebs ist Thema eines Aufsatzes von Benno von Wiese zu Kleists Artikel „Über das Marionettentheater“. Der Mensch habe mit der paradiesischen Unschuld die Anmut verloren, hatten wir in Kleists rätselhaftem Gespräch gelesen. Der Mensch sei mit dem Austritt aus der Natur aus dem Gleichgewicht geraten; er sei nicht mehr ganz: das Bewusstsein störe die Natur. Mechanische Puppe und bewusstlose Kreatur oder der Gott mit unendlichem Bewusstsein seien anmutig; der Mensch aber in seinem endlichen Bewusstsein habe ein gestörtes Verhältnis zu sich selbst als Körperwesen. Wie ist das Paradies wieder zu finden? Vom Baum der Erkenntnis müsse der Mensch noch einmal essen, – um zu dem unendlichen Bewusstsein zu gelangen? Andererseits heißt es: Wir müssen die Reise um die Welt machen, um zu sehen, ob das Paradies vielleicht von hinten irgendwo wieder offen ist. Plötzlich drängt sich die Frage auf, ob nicht die Sinnlichkeit der Hintereingang sein könnte? Ist vielleicht die bewusste Be‑sinnung auf die Sinne die Aufhebung der Entfremdung, also ästhetische Revolution? In Schillers Briefen zur ästhetischen Erziehung hatten wir gelesen, dass das vollkommenste aller Kunstwerke der Bau einer wahren politischen Freiheit sei. Um das politische Problem zu lösen, müsse man durch das ästhetische den Weg nehmen, weil es die Schönheit sei, durch welche man zu der Freiheit wandere. Also gibt es doch die Chance der ästhetischen Selbstveränderung als revolutionären Weg ins verlorene, aber wiedergefundene Paradies? Und die Wiederentdeckung der Sinnlichkeit ist ein Beitrag dazu? Zu schön, um wahr zu sein. Keine voreiligen Schlüsse! An der Wand des Seminarraumes hafteten noch die Einstiegsprodukte der 1. Stunde: Jede/r sollte auf ein DINA4‑Blatt „möglichst sinnlich“ das Wort Sinnlichkeit schreiben. Die Blätter an der Wand wirkten jetzt wie ein Symbol: ästhetische Revolutionierung des Alltags!? Keiner hatte so gewöhnlich geschrieben wie sonst; jede/r außergewöhnlich: üppig, geschnörkelt, schwungvoll, kurios, extravagant, malerisch, überschwenglich, phantasievoll, lebendig, anders. Wenn man nun alles anders täte, nicht so zweckrational lebte, sondern eben anders; und wenn das ansteckte und alle ergriffe, wäre das nicht die Revolution? Man werde sich nicht durchsetzen können, wurde schnell eingewendet. Schließlich habe man sich der Nachfrage und den Marktgesetzen anzupassen, wurde bald gefunden. Das sei auch in der Ausbildung an Folkwang so. Aber andererseits: du musst doch nicht sechs Stunden am Tag für die Zwischenprüfung üben. Du kannst dir Zeit für anderes nehmen. Und die Friedens- und die Ökologiebewegung, die haben doch sehr viel verändert. Du musst also nicht so total auf die fremdbestimmten Ziele fixiert sein. Der Weg ist das Ziel! Der letzte Satz erinnert an Berendt und weitere Verfechter eines neuen Zeitalters, denen persönlich die ästhetische Revolution schon gelungen und die Welt wieder intakt ist. Zur Ernüchterung: Solange es die bürgerlich-kapitalistische Zivilisation gibt, gibt es immer mal wieder einen Uberdruss an ihr und zum Trost die Sehnsucht nach dem ursprünglichen Leben. Die gute alte Zeit. Am allerliebsten wieder ganz Natur sein. Das System selbst schafft die Mentalität des Zurückwollens und zwar zu seinem eigenen Überleben. Zum Beispiel: In kapitalistischen Industriegesellschaften sind die Beziehungen zu Dingen und Menschen wie zur eigenen Leiblichkeit prinzipiell problematisch: oberflächlich, unbeständig, instrumentell. Sie sind nämlich nicht sinnen- und subjektorientiert, sondern tausch- und prestigeorientiert. Wenn nun neue Gemeinden tiefere Beziehungen zueinander, zu sich selbst, zu den Dingen versprechen und kurzfristig auch bieten, dann erklärt sich ihre Anziehungskraft aus jener prinzipiellen Problematik. Allerdings machen die neuen Gemeinden fit fürs alte Geschäft. Und wie durchdrungen die neuen Gemeinden selbst vom Geldgeschäft sein können, dafür hat es Beispiele genug gegeben. Letzten Endes erfüllen all die Gemeinden und therapeutischen Praktiken eine gesellschaftlich-affirmative Funktion: sie stabilisieren statt zu revolutionieren. Die Kuren tragen selbst noch die Spuren der Krankheit, die sie nötig machte (frei nach Adorno): die Sehnsucht nach der Südsee als bürgerlichem Mythos, die transzendentale Meditation und die Wallfahrt nach Poona, Müsli- und Gesundheitskult, Urschrei-und Fußzonenreflextherapie. Und jetzt die (gar nicht so) neue Holismus-Spiritualität des J. E. Berendt, auf Capra gestützt, oder die ähnliche, matriarchale Fassung bei H. Göttner-Abendroth. Es begann in Amerika: Als die Hochkonjunktur mit dem Vietnamkrieg ihr Ende erreichte, entstanden neben der antikapitalistischen Bewegung – und mit ihr vermischt – die Aussteigerwelle, die Drogenwelle, die Therapiewelle, der Alternativkult. Ein entlarvendes Markenzeichen dieses Kultes in der BRD war (und ist) das Buch „Der Papalagi“. Von 1977 bis 1983 hat ein Schweizer Verlag dieses Büchlein 560.000 mal gedruckt. Fünfhundertsechzigtausendmal aus den Sprüchen gegen die Zivilisation Kapital geschlagen. Dieses Buch enthält angeblich die Übersetzung der Reden eines Südsee-Häuptlings, in denen dieser nach einem Europa-Aufenthalt die Kultur der Weißen beklagt. Tatsächlich aber sind die „Reden“ vom Verfasser Erich Scheurmann schlecht erfunden und als konservativ-frömmelndes Schriftchen kolonialistischen Geistes bereits 1920 erstveröffentlicht worden. Neben den politisch orientierten Bewegungen ‑ APO, Frauen-, Friedens-, Ökologiebewegung ‑ und wiederum mit ihnen vermischt verbreiten sich Strömungen, die ihre geistige Haltung als neue Spiritualität bezeichnen und dadurch wie eine Religion ohne Amtskirche wirken. Die praktische und dann auch theoretische „Wiederkehr des Körpers“ und mit ihr der Sinn für Sinnlichkeit begleitet alle genannten Strömungen, ist unterschiedlich akzentuiert und bedeutungsvoll, verselbständigt sich auch. Der Berührungspunkt zwischen Sinnlichkeit und neuer Spiritualität kann mit dem Stichwort Ganzheit gekennzeichnet werden. Während die bisherige Naturwissenschaft ‑ Ermöglichung aller technologischen Revolutionen der Zivilisation – von den Spiritualisten als alte Wissenschaft verteufelt wird, werden Kybernetik, Systemtheorie, Holismus ‑ Entwicklungsstand der gleichen Naturwissenschaft ‑ als neue Wissenschaften herangezogen, um ganzheitliches Denken zu propagieren. Dabei wird allerdings ein falsches Harmoniedenken verbreitet, indem der Systembegriff ununterschieden auf Stoffliches und Lebendiges, auf Ökologie, Gesellschaft und Soziales angewendet wird. Diese Propaganda suggeriert, dass jede/r sich ja bloß als einzelner Mikroorganismus in das universale Makrosystem einzuschwingen brauche, um zur ewigen Harmonie zu gelangen. Die Entdeckung, dass alles mit allem zusammenhängt, wird als harmonisches Ganzes dargestellt, in welchem das eine gute Prinzip zum Vorschein komme, oder das dieses selbst sei. Bei Berendt ist es Klang. So wie viele auf das Papalagi-Buch hereingefallen sind, so fallen viele auf die Spiritualisten rein. Es wäre aber alles andere als der Sinn der Seminare zur Theorie und Kultur der Sinne, zu diesem Reinfall beigetragen zu haben. Also keine ästhetische Revolution? Nein, keine ästhetische. (Einschub für die Leser/innen, die „.Sondern?“ gefragt haben: Eine politische Revolution/Umwälzung muss an den Bedingungen ansetzen, die sich zu ihrer eigenen Absicherung die immer neuen Mentalitäten erzeugen.) Die Feststellung muss dennoch kein Grund zur Enttäuschung sein; außer in dem Sinn, dass jemand von einer Täuschung befreit wird. Auf den Sinn der Sinne aufmerksam zu machen, hat schon Sinn genug. Zumal auf den Sinn der Sinne als Ermöglichung von Kunst. Darüber hinaus kann die Arbeit am SinnenBewusstsein auch etwas mit Emanzipation zu tun haben. Oben war das bereits angedeutet: im Kapitel „.Sinnlichkeit und Politik“. In dem überholten (?) Streit um die Priorität zwischen gesellschaftlicher Veränderung und Selbstveränderung nimmt die Sinnenarbeit eine mittlere Position ein. Sie ist Selbstveränderung, die politische Aufmerksamkeit erzeugen kann. Sie blickt nicht frustriert auf die betonierten Verhältnisse und eine ferne klassenlose Gesellschaft, sondern hebt Einschränkungen, Behinderungen, Entsagungen auf. Sie behält dabei kühlen Kopf. Die gewonnene Einsicht und Kraft führen zu politischen Beteiligungen. So kann erprobt werden, ob die bürgerliche Gesellschaft noch Veränderungspotential zu menschlicher Emanzipation enthält, noch bevor die politische Emanzipation weiter vorgetrieben werden konnte. Auf diese Weise kann Sinnenarbeit Beitrag zu einer nachbürgerlichen Gesellschaft sein. Die verächtlich gemeinte Bezeichnung „die Biophilen“ wird auch auf diejenigen gemünzt, die sich ihrer Sinnlichkeit vergewissern wollen. In politischer Aufmerksamkeit fördert die Liebe des Lebens aber eine Solidarität mit allem Lebendigen, die zur Humanität gehört und im Maße der letzteren wächst (Horkheimer). Literatur F. Capra, Wendezeit. Bausteine für ein neues Weltbild. München u.a. 1985 J. Fellsches. Beziehungsarmut als Lebensentzug. In: F. Baumgart u.a., Emendatio rerum humanarum. Erziehung für eine demokratische Gesellschaft. Festschrift für Klaus Schaller. Frankfurt/M. 1985 R. Nemitz, Der neue Spiritualismus. Über Capras „Wendezeit". In: Das Argument 28 (1986) H. Ritz. Sehnsucht nach der Südsee. Göttingen 1983 E. Scheurmann. Der Papalagi. Zürich 1983 5. Auszüge aus: Hubert Tellenbach, Geschmack und Atmosphäre, Salzburg 1968 F. J. J. Buytendijk im Geleitwort „Über die gelebte Wirklichkeit des Atmosphärischen“ Es ist nicht zuviel gesagt, wenn ich „das Atmosphärische" ein Schlüsselwort nenne. Verweist uns doch diese Kennzeichnung geradezu an die atmosphärische Wirksamkeit des sprachlichen Ausdrucks. Nicht zufällig hat TELLENBACH auf die literarischen Manifestationen des Atmosphärischen bei STRINDBERG, PROUST, DOSTOJEWSKI hingewiesen. Aber schon in der Alltagssprache des schlichten Zusammenlebens gibt es Schlüsselworte mit atmosphärischer Wirkung. Es wäre ein interessantes Thema der Sprachforschung, dieses Wirken im Einzelnen nachzuweisen. HENRI LEFEBVRE hat in seinem Buch: "Le langage et la societe" bereits darauf hingewiesen, wie der Ausdruckscharakter der Worte, die in den „Codes" des Alltags gebraucht werden, verlorengeht. Kein Zweifel: es existiert eine Verwandtschaft zwischen Geschmack und Sprache. Es gibt nicht nur ein geschmackloses Gerede; Worte können auch bitter, süß, würzig, ekelhaft sein. Das gilt allerdings nur für „le parole parlante"; denn am Ende des Kapitels „Konstantes im Umfeld der atmosphärischen Überwältigung" weist TELLENBACH auf die auch mögliche Entmächtigung des Wortes hin. „Auch die Einrede, die das eigene Selbst ‑ meist als Frage ‑ vorbringt, ist vergeblich, weil das Wort der präversalen und präreflexiven Welt des Atmosphärischen inkommensurabel ist." Die Wirkung, welche dem Wort „Atmosphäre" in den Wissenschaften und in der philosophischen Besinnung auf das Wesen des Menschen zukommt, hat TELLENBACH in verschiedensten Bereichen klar aufgezeigt. Allenthalben erweist sich Atmosphäre als Einheit von Präsenz und Sinn einer gelebten Wirklichkeit, die noch nicht unter die Bestimmung eines Themas getreten ist. Diese Einheit ‑ so meine ich – bezeugt sich uns in „Atmosphäre" subtiler, eindringlicher, unabweisbarer als in jedwedem anderen Wort, das auf das Umgreifende und Durchdringende einer gelebten Wirklichkeit hinzuweisen beabsichtigt. Ähnliches haben schon frühere Autoren gesehen. Wir denken an WILLIAM STERNs Unterscheidung des einbettenden Erlebens von den abgehobenen Bewusstseinsgestalten und ‑Strukturen, die ‑ wie dieser große Psychologe schon bemerkte ‑ „nicht im Leeren schweben, sondern eine Atmosphäre haben, die sie umdringt und durchdringt". Wir denken auch an LERSCHs Begriff des „endothymen Grundes", der unser Zumutesein und Angemutet‑werden umfasst; und wir denken ausdrücklich an die Begriffe „Stimmung" und „Befindlichkeit". Sehen wir ab von dem prägnanten Sinn, den diese Worte in der Existenzphilosophie und Daseinsanalytik erhielten, so wird zumeist mit „Stimmung" die Einheit von Ich‑ und Welt‑Gefühl gemeint. Wie sehr dabei Stimmung und Atmosphäre von verwandtem Sinngehalt sein können, geht m. E. aus einer Bemerkung STRASSERs hervor. „Man spricht von einer Abend‑, einer Morgenstimmung, einer stimmungsvollen Landschaft, einer religiösen, einer revolutionären, einer Inflations-, einer Panikstimmung. Hierin offenbart sich, wie BOLLNOW bemerkt, die Einheit von Mensch und Welt". Gerade solche Beispiele lehren uns aber auch den Unterschied von Stimmung und Atmosphäre. Letztere ist eine unpersönliche Wirklichkeit, verwandt der Physis der Antike, an der der Mensch teilhat, weil er atmen und kosten (schmecken) muss! (S. 8f.) H. Tellenbach: Duften und Riechen ‑ atmosphärische Ausstrahlung und atmosphärisches Gespür Was dem Säugling im Schmecken gegeben ist, nannten wir den Kern der Erfahrung des Mütterlichen: den Kern, weil sich im Geschmack verdichtet, was sich an Duft von der Mutter her anbietet. Wir sahen schon, dass es zunächst ausschließlich diese Duftwelt ist, in die das Neugeborene eintritt, und dass die Natur es darauf auch vorbereitet hat, weil sie die Riechbahnen des Großhirns vor allen anderen markhaltig werden lässt. Indessen ist, was die Mutter ausstrahlt, nicht nur Duft. Es ist mehr! In diesem Duft hat das Kind zugleich auch das Wesen der Mutter, ihre Atmosphäre. Es ist nicht so, dass der Duft nur kommensurabel wäre für das Wesen der Mutter und das Atmosphärische nur eine Analogie zum Duft. Nein: der Duft ist zugleich auch dieses Atmosphärische. Es handelt sich um Simultanes. Erst dieses Zugleich macht in der Welt der oralen Sinnlichkeit das volle ganze Erlebnis aus, von dem ausgehend wir freilich auf Partikulares (Duft allein, Atmosphärisches allein) abstellen können und dies auch mit empirischem Recht tun, weil die volle Gegebenheit nicht immer angetroffen wird. Dieses volle oralsinnlich Gegebene lehrt uns aber dies: in keiner anderen Erfahrung unserer Sinne wird so deutlich, dass über das im engeren Sinne Vernommene hinaus sich etwas vom Wesen dessen mitteilt, dem das Duftende entstammt. (S.46) Diese Erfahrung bleibt indessen nicht auf den Oralsinn begrenzt. Wir hören nicht nur, was eine Stimme sagt: wir hören auch das Wie, das Timbre, das uns an einer Stimme anzieht oder abstößt. Dieses Atmosphärische ist, jenseits des stimmlich Mitgeteilten, ein unmittelbares Emanat der Person, die spricht. Wir bewundern ein Geigenspiel, das einen schwierigen Part meistert; aber nur die Spürung des „flair" kann unser volles Entzücken wecken. In nahezu jeder Erfahrung unserer Sinne findet sich ein Mehr, das unausgedrückt bleibt. Dieses Mehr, das über das Reale Faktische hinaus liegt, das wir aber ineins damit spüren, können wir das Atmosphärische nennen. Gleichwohl hat die Erfahrung des Atmosphärischen in der Welt des Oralsinns nicht nur ihren genetisch ersten, sondern auch ihren phänomenal beherrschenden Ort. Wir verdanken E. MINKOWSKI eine schöne Analyse dieses Phänomens. „L'odeur se repand dans fair." (S. 115) Der Duft verbreitet sich in der Luft und entdeckt uns so die Existenz der Atmosphäre. Indem wir den Duft gewahren, nehmen wir an der Atmosphäre teil. Atmosphäre ‑ und zwar immer eine spezifische, wenn auch unterschiedlich intensive ‑ scheint ausschließlich von organischen Bildungen auszugehen: von Individuen, Gruppen, Landschaften, Kulturen. Das Anorganische, rein Stoffliche strahlt von sich aus keine Atmosphäre aus, wohl aber, wenn es ins Gebilde geformt ist ‑ und nirgends stärker als dort, wo der Stoff begeistet, vom Seelischen durchwohnt ist, wie im Kunstwerk. Atmosphäre hat auch, was aus einem Gesamt von organischen Bildungen konvergiert. So haben Städte als Ganzes, haben Gebäude wie Spitäler, Kasernen, Schulen, Kirchen einen typischen Geruch und in diesem Geruch ihr spezifisch Atmosphärisches, das unserem Vernehmen ihre Eigenart vollkommener offenbart, als dies durch Wahrnehmungen der höheren Sinne geschehen kann. Es lassen auch gewisse Zustände organischen Lebens eine ganz spezifische atmosphärische Emanation erkennen. Ein solches Zuständliche ist z. B. das Verwesende. Keinem anderen als dem oralen Sensorium offenbart sich so unwiderleglich der Tod. Auch das Elend teilt sich eindrücklich sensorisch‑atmosphärisch mit ‑ und dies in so ganz anderer Weise wie die Armut (etwa im Sinne des Franziskanischen), die atmosphärisch davon von Grund auf verschieden ist. Aber auch das Blühende, Wohlgeratene kann sich in einem feinen duftend‑atmosphärischen Emanat mitteilen. Atmosphärisch wird das Heimatliche erfasst wie auch das Fremd‑Unheimische. Wenden wir uns nun aber jener Bildung der organischen Natur zu, die uns in ihrer einzigartigen Begeistung das Atmosphärische am reinsten offenbart: dem Menschen in seinem individuellen Dasein. Ein Mensch hat und verbreitet Atmosphäre in mehr oder minder intensiver Weise als eine Wesensausstrahlung, die ihn in seiner Personalität kennzeichnet ‑ „wie eine feine Wolke, die von ihr ausgeht" (MINKOWSKI S. 119). Wo immer ein Mensch mit dem anderen in Beziehung tritt, steht dieser strahlend‑spürende Bezug am Beginn. In diesem Eröffnungszug kann sich das Mitmenschliche durchaus erschöpfen. „Oft vernehmen wir von einer Person gar nicht viel mehr als einen irgendwie getönten Hauch" (RUDERT), den wir achtlos geschehen lassen können, dem wir uns aber auch bewusst entziehen können. Wenn wir dagegen mit dem anderen in nähere Fühlung geraten, so wird diese zunehmend vom Atmosphärischen durchwirkt. In einer schönen Studie hat RUDERT diesem feinen Weben nachgespürt. Auch wenn „prägnantere Züge uns beeindrucken oder wo aus unserer Erfahrung mit einem Menschen bestimmter geprägte Züge sich kristallisiert haben, bleiben diese in der Regel umgeben von einem Hof atmosphärischer Momente". Das Atmosphärische ist aber „nicht nur gleichsam außen um die abgehobenen Züge her. Es waltet auch durch sie hindurch, durchdringt sie. Wenn die Bescheidenheit oder der Stolz eines Menschen als Eigenschaft erkannt ist, so ist in der besonderen Weise, wie er bescheiden oder stolz ist, das Timbre, das atmosphärisch Besondere seiner Person anzutreffen. Dies Atmosphärische durchdringt die Person in allen ihren Zügen, sie alle in eine besondere, individuelle Farbe eintauchend." Das Atmosphärische pflegt den mit‑menschlichen Umgang maßgeblich zu bestimmen. Spontane Ablehnungen (das Sich‑nicht‑riechen‑Können) und Zuneigungen (das Sofort‑Geschmack‑aneinander‑Finden) haben ihren Grund in diesem Hauch, der uns ebensosehr anziehen wie schroff abstoßen kann. Das kann geschehen, weil der Emanation des Selbst im Atmosphärischen jene ursprünglich im Oralsinn mitgesetzte Fähigkeit zur Wahrnehmung der Atmosphäre anderer korrespondiert. Man kann das Vermögen, die atmosphärische „Selbstgebung" des Mitmenschen zu erfahren, schwerlich anders bezeichnen denn als ein Spüren, ein Gespür für Atmosphärisches. Was wir das atmosphärische Spüren nennen, hat MINKOWSKI „aspirer“ genannt. Es soll darin zum Ausdruck kommen, dass ich dem Atmosphärischen nicht nur ausgesetzt bin, sondern seiner Eindringlichkeit auch alle Poren meines Wesens (tous les pures de mon etre) öffnen kann. (S. 118) In diesem Sinne ist aspiration ein Phänomen des tätigen Ich (un phenomene du moi actif). Fehlen indessen nicht in aspirer die Momente von Wahl und Bewegung? Der Geist unserer Sprache weist uns das Wort „Spüren" an, worin auch die suchend erfassende Hinwendung begriffen ist. Im Gespür für Atmosphärisches besitzen wir ein Organ des Erfassens dessen, was Mitwelt und Umwelt ganz unmittelbar und einheitlich charakterisiert. Dem Spüren dieses Unwägbaren, Ungestaltigen entspringen einprägsame Vor‑Urteile über mitmenschlich Begegnendes, entspringen Stimmungen, die primäre sympathetische Zustimmung oder ablehnende „Animosität" sein können. 3. Die Begründung des Vertrauens im Atmosphärischen In dieser Perspektive erscheint das Vertrauen als eines der grandiosen Vor‑Urteile, ohne welche der Mensch sich nicht entfalten kann. Das Vermögen zu vertrauen gehört zu den daseinsbegründenden Möglichkeiten, an deren Integrität die volle Entfaltung des Menschen in die Welt hinein (und über die Welt hinaus) geknüpft ist; denn das Vertrauen ist die Basis des Verhältnisses des Menschen zu sich selbst, ist das Fundament seiner personalen Bezüge und schließlich auch der Kern des Glaubens an das Unglaubliche im religiösen Sinne. Wenn wir zunächst nach dem Wesen des Vertrauens als einer entscheidenden Bestimmung mitmenschlichen Seins fragen, so tritt uns diese wohl nirgends so unverfälscht entgegen wie im kindlichen Dasein. Dass ein Kind im Vertrauen, in einem sehr wörtlichen Sinne, getrost sich „verlassen" kann, weil es vom Erwachsenen, dem es traut, nicht verlassen wird: das ist eine Grundsituation des Kindseins, die sich ohne verderbliche Konsequenz nicht verändern lässt. Dieses Vertrauen gründet sich mit Notwendigkeit in die Wahrhaftigkeit und Zuverlässigkeit des anderen, dem es sich anheimgibt, wenn es sich verlässt. Das Vertrauen ist immer ein Wagnis; denn es liegt seinem Wesen nach der Erprobung des anderen voran. Mein Vertrauen ist ja gerade das, womit ich den anderen erst in die Situation der Erprobung seiner Treue bringen kann. Deshalb ist das Vertrauen seinem Wesen nach ursprünglich blind. Es käme gar nicht in seine Möglichkeit, wenn es zuvor sähe und wüsste. Es gibt eben Seiten am anderen, die ich nur dann zu Gesicht bekomme, wenn ich blind bin. Deshalb ist es ja auch ein solches Skandalon, wenn ein Vertrauen enttäuscht wird; denn dann ist der Vertrauende, der sich selbst an den anderen wagte, in der Gefahr, sich selbst zu verlieren. In diesen Kriterien: in der Komplementarität mit der Treue des anderen, in der Blindheit des Wagnisses und in der Vorordnung vor die kritisch erfahrende Vernunft, erblicken wir das Vertrauen freilich bereits im Stande seiner vollen Ausprägung ‑ gleichsam als etwas Endständiges. Nun hängt aber für unsere Aufgabe doch das meiste ab von der Frage nach den vorbereitenden Stufen, in denen das Vertrauen erst zur Welt kommt und von der Frage nach den Bedingungen, an welche diese seine Entwicklung geknüpft ist. Sofern im Vertrauen ein Annehmen von „Wahrheit" geschieht, das den Zweifel ausschließt, so interessiert uns jetzt vor allem der Hergang dieses Annehmens. Wenn das Vertrauen ein Phänomen der Komplementarität ist, so muss die Frage nach dem Ursprung des Vertrauens naturgemäß auch eine Frage an den anderen sein. Was geht denn eigentlich von einem Mitmenschen aus, auf das hin ein Kind zu ihm Vertrauen fasst ‑ ein Kind, das doch noch nicht verstehen, geschweige denn kritisch hinsehen, prüfen oder erkennen kann. Es muss etwas sein, das all dem voranliegt, ein Fluidum ‑ jedenfalls etwas, das nur in einer ganz unmittelbaren Spürung erfahren werden kann. Ein solches Ausstrahlen und die Strahlung auffangendes Spüren, worin wir das Vertrauen gleichsam zur Welt kommen sehen, hebt allererst an in der Beziehung des Kleinkindes zur Mutter. Es sind bestimmte Prädikate der von der Mutter ausstrahlenden Atmosphäre, welche in der vorsprachlichen Phase seiner Entwicklung das Vertrauen des Kindes begründen: der Duft und Geschmack ihres Spendens und die Zuverlässigkeit dieses Spendens (R. SPITZ; H. ERIKSON). In diese Atmosphäre geht das Kind ein wie in eine Aura, die sein Wachsen umhüllt. In dieser Aura des Mütterlichen, die sich später in die Sphäre der Familie weitet, entwickelt sich die Fähigkeit zu einem zuverlässigen atmosphärischen Gespür für die Qualität des Mitmenschlichen ‑ wie auch das Vermögen zu eigener atmosphärischer Ausstrahlung. Wir stehen hier am Beginn eines unwägbaren Hin und Her: des Ausstrahlens eines den Menschen in seiner Singularität kennzeichnenden Airs ‑ und der Feinheit und Sicherheit des Gespürs für die Emanation des Mitmenschen, worin wir vor allen Worten spüren, ob dieser andere unser Vertrauen verdient oder nicht. Die Sicherheit, mit der ein Kind dieses allerfeinste Spiel lernt, ist gleichbedeutend mit seiner Möglichkeit, in der rechten Weise vertrauen zu lernen. (S. 47 – 51) Wenn Atmosphärisches nun auch weder im erklärenden noch im deskriptiv‑phänomenologischen Verstehen im Sinne von JASPERS objektivierbar ist, so ist es darum doch qualifizierbar. Dies vor allem dort, wo es als Medium der Intersubjektivität spürbar wird. Damit kann in der Benennung der folgenden antagonistischen Qualitäten ein allererster Anfang gemacht werden. In den Qualitäten kommen überwiegend Kriterien der Temperatur, Spannung und Konsistenz zum Ausdruck, die ansonsten für Kriterien der Atmosphäre als Luft gelten. schmutzig ‑ schmierig rein kühl ‑ frostig warm ‑ hitzig geladen ‑ gespannt gelöst mager (dünn) dicht dumpf ‑ schwül ‑ welk frisch eklig ‑ abstoßend anziehend ‑ behaglich unheimlich ‑ feindselig ‑ fremd heimisch ‑ freundlich ‑ vertraut (S. 63) 6. Auszug aus: Hubert Tellenbach, Gebildete Sinne. Bedingung glückenden Daseins. In: Polyaisthesis 1 (1986), 29-38 Eine ganz andere Sinnessphäre harrt der Erschließung, wo der Mensch als Hörender und Sagender im Schweigen angelangt ist. Schweigen ist nicht einfach ein "Nicht‑Sprechen", so wenig die Pause in der Musik nur ein "Nicht‑Tönen" ist; das Schweigen hat seine eigene phänomenale Bestimmtheit: als Atemlosigkeit, als feindseliges Verstummen, als Verweigerung im Sinne des Verschweigens, als Verstummen in der Qual, in dem der Mensch sich wandelt, wie Hiob schwieg oder aber als Sprachlosigkeit im Staunen. So sehr also Schweigen als Verweigerung von Einstimmung, als Ausdruck fühlbarster Dissonanz gelten kann, so kann es doch auch Bekundung jener innigsten Einstimmung sein, wie sie in der Lebenswelt des Fernen Ostens auf den Gipfel gekommen ist. "Wenn ein Mensch ‑ so KIMURA15 ‑ ganz im Schweigen, d.h., ohne sich verbal oder mimisch auszudrücken, einen anderen vollends versteht", so bezeichnet die japanische Umgangssprache dies als "Ki‑ga‑au", d.h. als "Übereinstimmung des Ki". Dieses Ki ist "Pneuma", "Atem", "Luft", aber auch "Gemüt". Im Medium eines umgreifend pneumatischen Atmosphärischen hat der Einzelne Anteil am Ganzen. Hier ist Mit‑Mensch‑Sein ganz primär atmosphärisches Mitsein, das im Schweigen die Totalität des Verstehens stiftet. Wo es diese Übereinstimmung im "Ki" nicht gibt, wo dieses atmosphärische Vorverständnis unterbrochen ist, da gibt es auch kein echtes Verstehen. Und weil dies kennzeichnend ist für jene psychotischen Zustände, in denen wir von "Verrücktheit" sprechen ‑ wo also der Anteil eines Menschen am "Ki" nicht mehr stimmig ist, da nennt der Japaner den Menschen "Ki‑chi‑gai", d.h. verrückt. Wo es zu jenem äußerst quälenden Zustand der psychotischen Atmosphärisierung in der beginnenden Schizophrenie kommt, die wir "Wahnstimmung" nennen, da findet diese Auffassung des Wahns, als Unterbrechung des atmosphärischen Elementar-Kontaktes im "Ki", ihre überraschende Bestätigung. Aber was ist dieses Atmosphärische eigentlich ‑ und was hat es mit den Sinnen zu tun? Den Sinnen wird Atmosphärisches vor allem spürbar in dem, was duftet. "Der Duft verbreitet sich in der Luft und entdeckt uns so die Existenz der Atmosphäre. Indem wir den Duft gewahren, nehmen wir an der Atmosphäre teil" ‑ so Eugene MINKOWSKI16 Spitäler, Kasernen, Schulen, Kirchen haben ihren eigenen Geruch, und ineins mit dem Vernehmen dieses Geruchs haben wir die Spürung eines spezifischen Atmosphärischen, in dem uns das Wesen dieser Stätten menschlichen Aufenthaltes ungleich vollkommener vermittelt wird, als dies durch Wahrnehmungen anderer Sinne möglich wäre. Riechend spüren wir die Atmosphäre des Elends, im Geruch der Verwesung west die Atmosphäre des Todes an. Wenn nun schon die Räume, in denen der Mensch sich aufhält, aus diesem Umgang und Aufenthalt ein atmosphärisches Eigensein gewinnen können, wie sehr muss das Lebendige selbst und in der Ordnung des Lebendigen der Mensch Atmosphäre ausstrahlen und als Mitmensch diese Ausstrahlung spüren. "Alles Lebendige bildet eine Atmosphäre um sich her" ‑ so GOETHE17. MINKOWSKI spricht von einer "feinen Wolke, die von der Person ausgeht". Dies zu spüren bedarf es der Entwicklung eines Organs eigener Art. Dieses Spüren atmosphärischer Emanation, dieser strahlend‑spürende Bezug steht am Beginn aller mitmenschlichen Begegnung. Spontane Ablehnungen und Zuneigungen, dieses Sich‑nicht‑riechen‑Können oder dieses Sofort‑aneinander-Geschmack‑Finden haben ihren Grund in diesem Hauch, der von meinem Gegenüber ausgeht, für den ich ein Gespür habe ‑ eine spürende Empfindlichkeit für diese seine atmosphärische Emanation. In der Spürung dieses Unwägbaren, Ungestaltigen und Sprachlosen bilden sich einprägsame Vorurteile über mitmenschlich Begegnendes, entspringen Stimmungen der primären Zustimmung oder Ablehnung. Dieser strahlend‑spürende atmosphärische Austausch stiftet einen elementaren Bezug, dessen Eigenart uns besonders eindrücklich wird, wenn er in der Begegnung mit Psychotikern gestört ist. Als Psychiater begegnet man immer wieder Patienten, die in ihrem Sprechen und in ihrem Handeln keinen Verdacht auf einen psychotischen Zustand aufkommen lassen. Je mehr sich in einem Psychiater ein spezifisches Gespür für Atmosphärisches gebildet hat, desto eher ist er in der Lage, die von einem solchen Patienten ausgehende Emanation als "fremde" und "befremdende" aufzufassen. Er spürt gleichsam zwischen den Worten, wie er mit seinem Gegenüber nicht mehr zu einer atmosphärischen Einstimmung kommen kann. Offenbar bin ich mit dem Mitmenschen durch etwas ganz Primäres, kaum anders als sphärisch zu Nennendes, immer schon vereint, gleichsam wie von einem gemeinsamen Himmel überwölbt. Und nun lässt die atmosphärische Emanation meines Patienten mich unmittelbar erfahren, dass ich mit ihm in jener primären Sphäre nicht mehr übereinstimme, mich mit ihm nicht zusammenfinden kann ‑ wobei ich mich doch gleichzeitig sprachlich mit ihm voll verständigen, ihn in seinen Äußerungen ganz verstehen kann. Die Fähigkeit solchen Spürens entspricht durchaus einer Urteilskraft, die zu erwerben ein wesentlicher Sinn der Erziehung zum Psychiater ist; denn es ist nicht in seine subjektive Vorliebe gestellt, kraft einer atmosphärischen Spürung einen solchen Wesenswandel seines Patienten festzustellen; es ist vielmehr ein objektives Vermögen, von dem sich auch der Unerfahrene überzeugen kann, wenn ihm in einem späteren Stadium bei Patienten Verrückungen im Handeln und im Denken erkennbar werden. Vielleicht gibt es nirgends eine so quälende Bekundung dessen, was man atmosphärische Überwältigung nennen könnte, als in dem Wort des Unbekannten in STRINDBERGsl8 Werk "Nach Damaskus": "Aber man ist nicht einsam in der Einsamkeit. Die Luft verdichtet sich und beginnt zu keimen, und Wesen entstehen, die man nicht sieht, die man aber wahrnimmt und die Leben haben." 34f. Fußnoten 15 Kimura, B.: Der Sinn der schiziphrenen Symptome. Tetsugaku-Kenkyu. 497, 225, 1965 (japanisch mit deutschem Autoreferat) 16 Minkowski, E.: Se répandre. (L’olfactif). In : Vers une cosmologie. Aubier-Montaigne, Paris 1967 17 Goethe, J. W. v.: Maximen und Reflexionen. In: Hamburger Ausgabe, Bd. XII. Hamburg: Christian Wagner 1955; Nr. 47. 18 Strindberg, A.: Werke Bd. VI, München: Langen-Müller o. J.