Texte zu Seminaren „Pädagogik der Sinne“ 1. Ästhetik als Theorie des Erlebens Lebewesen Mensch Leben – Erleben – Lebenführen Menschliche Lebensäußerungen haben ihre Ermöglichung im Nervensystem (bes. Gehirn). Darin ist ihre Einheit begründet, einschließlich des Erlebens als bewussten Seins. „'Materie' heißt, was den Gesetzen der Physik genügt. Wenn diese Gesetze lediglich formulieren, was eindeutig erfahrbar ist, so steht nichts im Wege, das, was zugleich Erfahrung machen und erfahren werden kann, als bewusst Erfahrendes Ich, als Erfahrenes Materie zu nennen“ (C. F. v. Weizsäcker 1990, S. 437). – Erleben ist die Mitte menschlichen Seins: leben und zugleich in Bewusstheit Kenntnis davon haben. Ä Kontinuum: Leben – Erleben – Lebenführen (in Gesellschaft, Sprache, S Arbeit, Herrschaft) T H Praxis: Sich verhalten – Tun – Handeln E T Leiblichkeit als Welt- und Selbstverhältnis (Leib sein/Körper haben) I K Einheit von Wahrnehmen und Bewegen als T Pathisches – Sympathetisches – Gnostisches H E Empfinden – Wahrnehmen – Erkennen O R sentience (Empfindungsvermögen) – awareness (Bewusstheit) I E Lebenserfahrung – Wissenschaftl. Erfahrung des E Sinn und Bedeutung, Ausdruck, sinnliche Erkenntnis, leibhaftige Vernunft R L E Erleben reicht vom Empfinden einer Zuständlichkeit (Schmerz, B Schwermut, Lebensfreude) E über sinnliche Gewissheit N zum Erleben meines Denkens bis hin zu Gedanken, die ich als S von mir unabhängig geltend bewusst habe. [Vgl. 2 + 2 = 4; an den Fingern schauend und doch unabhängig von ihnen/mir geltend.] 2. Das Spektrum der Sinne (Aus: Erwin Straus, Vom Sinn der Sinne, Berlin 2. A. 1956, Reprint 1978) Zusammenfassende Thesen Sinnlichkeit, „die Gattung Sinn .... breitet sich in den einzelnen Sinnen wie in einem Spektrum aus“ (S. 394). Im Sehen nehme ich meinen Leib gegenständlich wahr, im Berührtwerden erfahre ich ihn unmittelbar. Die allein physiologische Sicht des Empfindens verstümmelt ihre Erlebensqualität. Jeder Sinn ist selbsterfahrungsbezogen und gegenstandsbezogen. Je unterschiedlich akzentuiert. Die Sinne lassen uns die Welt in wechselnden Aspekten erfahren. Die Sinne regulieren durch ihre Kontaktweisen den Grad der Annäherungen. Das Sehen ist der Sinn der Identifizierung und Stabilisierung. Das Hören ist der Sinn des Zeitlichen, Aktuellen, Vergänglichen. Sehen ist analytischer Sinn, Hören ein synthetischer. Im Sehen wenden wir uns einem Etwas aktiv zu, im Hören werden wir erfasst. „Keine der Modalitäten spielt nur in einer einzigen Tonart. Doch ist in jedem einzelnen das Grundthema Ich-und-das-Andere in spezifischer Weise so variiert, dass im Sichtbaren das Beharrende, im Hörbaren das Aktuelle, in der Tastsphäre das Wechselseitige, im Felde von Geruch und Geschmack das Physiognomische, im Schmerz das Macht-Verhältnis vorherrscht“ (S. 402). 3. Zusammenfassung zu einer Abschluss-Sitzung Das Seminar bestand aus drei großen Abschnitten, einem Übungsabend zur Bewegung und einem Zwischenspiel. Die drei Abschnitte waren überschrieben: „Zu Ästhetik als Leiberfahrung“, „George Steiner's Theorie einer Ästhetik der Realpräsenz“ und „Zwischen Simulation und Erfahrung“. Die Übungen und das Zwischenspiel in den Räumen der „Situation Kunst“ in Bochum berühren alle Teile, sind aber besonders mit dem Abschnitt „Ästhetik als Leiberfahrung“ verbunden. Der nun folgende Rückblick auf das Seminar sagt jeweils einiges zu den Inhalten der einzelnen Sitzungen und versucht, jeweils ein Ziel einer Pädagogik der Sinne als Bewusstheit für Beziehungsqualität zu nennen. Den ersten Abschnitt eröffneten wir mit dem Aufsatz von Hans Jonas: Das Problem des Lebens und des Leibes in der Lehre vom Sein. Jonas nimmt sich vor, als Philosoph und Biologe eine Seinslehre zu erstellen, eine Ontologie des Lebens. Beim Menschen bilden Leib und Leben eine Wort- und Sinneinheit. Jonas weist nach, dass in der zu überwindenden dualistischen Wissenschaftsteilung zwischen Philosophie und Naturwissenschaft nicht begriffen werden kann, was es mit Leben auf sich hat. Während sich die Philosophie um das Bewusstsein bemühe und die Naturwissenschaft um die Außenwelt, verschwinde das Leben zwischen Bewusstsein und Außenwelt. Von der Zentralstellung des menschlichen Leiblebens aus gehe es um einen „integralen Monismus höherer Ordnung“. Die „eigenleibliche Grunderfahrung“ ist innerlich und äußerlich zugleich. Im Leib existiert das Ich zugleich bei sich selbst (intensiv) und inmitten der Welt (extensiv). Vom lebendigen Leib, der als Ganzes von innen und außen erfahren wird, kann auf eine Einheit der Wirklichkeit geschlossen werden und darauf, dass sie einen Innenhorizont haben „kann, und dass daher ihr ausgedehntes Sein nicht notwendig ihr ganzes Sein ist“ (S. 39). Pädagogik der Sinne will zur Überwindung des Dualismus von Körper und Geist beitragen. Sie wendet sich gegen die Geringschätzung des (isolierten) Leiblichen, sieht Leib und Leben vielmehr als das Zentrum einer Ontologie des Lebens. Sie bemüht sich um einen "integralen Monismus höherer Ordnung". Auch bei Adolf Portmann fanden wir philosophische Biologie und hörten Biologisches zur ästhetischen Erziehung. Sinnlichkeit, Wahrnehmung, die ästhetische Dimension menschlichen Lebens sei - abgespalten vom Rationalismus in Wissenschaft und Technik - zu wenig beachtet und verkümmert. Pädagogik der Sinne beteiligt sich an der Rehabilitierung der ästhetischen Dimension durch Leiberfahrung. Sie ermöglicht sinnliche Gewissheit als Bewusstheit für Beziehungsqualität. Mit seinem Titel „Gebildete Sinne - Bedingung glückenden Daseins“ macht Hubertus Tellenbach darauf aufmerksam, dass Dasein dann glückt, wenn es als Beglückung erfahren wird. Hierzu muss eine/r dessen gewahrwerden (als sinnliche Erkenntnis), dass das eigene Leben Teilhabe und Teilnahme am gesamten Leben und Sein ist. Die Freude am sinnlichen Sein, sinnlich zu sein, kann dazu beitragen. Pädagogik der Sinne bemüht sich, durch die Besinnung auf die Sinne zum glückenden Dasein beizutragen. In George Steiner's Ästhetik einer Realpräsenz erhält das Engagement einer Pädagogik der Sinne starke Unterstützung. Sich mit sinnlicher Vernunft vorbehaltlos auf die Wirkung von Kunst einzulassen, könne zu einer Erfahrung führen, die mit dem Sinn von Sein in Berührung bringt. Für Steiner gibt es einen Urheber dieses Sinns: Gott, für Steiner nicht nur als Chiffre, sondern als Schöpfer. Pädagogik der Sinne kommt es nicht auf den Schöpfungsglauben an, es genügt, an die Erfahrung heranzukommen, dass zu leben selbst sinnvoll ist. Lebenserfahrung als Erfahrung des Lebens kann erweisen, dass wir ohne Sinn, ohne Trauen, Hoffen und Lieben nicht leben können. Das leibhaftige Subjekt lebt, indem es deutend Erfahrungen macht: der Sinn des Lebens ist das Leben selbst, dabei zu sein. Wer zur Annahme (schönes doppeldeutiges Wort) eines staunenswerten Sinns vom ganzen Seinszusammenhang gelangt, erfährt eine Stärkung. Wo Pädagogik der Sinne der kleinste Schritt in diese Richtung gelingt, ist ein Gewinn gegen den Nihilismus erzielt. Pädagogik der Sinne lässt den Zusammenhang von Ästhetik und Ethik erfahren: wie ich etwas anschaue, so gehe ich mit ihm um. Die Erkenntnis der zeitweiligen Zugehörigkeit zu einem großen LebensProzess, macht nicht überheblich, sondern kann zu einer Solidarität des Lebens (M. Horkheimer) führen und beglücken. Mit dem Abschnitt "Zwischen Simulation und Erfahrung" wurden in Verbindung mit den Analysen Jean Baudrillards Überlegungen eingeleitet, dass und warum Wahrnehmung heute anders gebildet und geleitet wird, als mit einer Pädagogik der Sinne ins Auge gefasst. Wahrnehmung wird heute von attraktiv glänzenden und werbenden Oberflächen angesprochen, kurz in deren Bann gehalten und von neuen Attraktionen befeuert. Das Nacheinander bleibt Oberfläche; Erfahrung schwindet, weil sie mit Tiefe zu tun hat. Baudrillard führt als Grund die neue Stufe des Wertgesetzes an. Die Bedingungen der Warenproduktion hat alle Lebensbereiche so formiert, dass Indifferenz, Beliebigkeit, Beschleunigung auf Höchstgeschwindigkeit in allen Bereichen herrschen. Sinn wird reduziert auf den immer wieder neuen und kurzen Genuss dessen, was sich bietet. Die Beziehungsqualität ist dürftig und verbrauchsorientiert. Pädagogische Gegenwirkung geht von der Annahme aus, dass Mangel an Erfahrung zu „Gefräßigkeit“ führt, menschliche Beziehungen an gegenständliche angleicht und Sinn für Verantwortlichkeit auslöscht oder nicht aufkommen lässt. Diese Annahme kann bestritten werden. Es ist auch nicht ohne weiteres abzuweisen, dass die angedeutete Entwicklung unaufhaltbar ist. Gegenwart wie Zukunft hängen aber auch davon ab, wie wir der Tendenz begegnen. Pädagogik der Sinne versucht, über tiefere Beziehungsqualität zu Menschen und Dingen Erfahrung sowie bewusste, selbstbestimmte Wahl und Gestaltung zu ermöglichen. Die Übungen und das Zwischenspiel sollten praktische Versuche im Zusammenhang mit den theoretischen sein. Sie sollten nicht zu Beweismitteln überfordert werden, aber ein Moment des Gemeinten sein: durch eine Besinnung auf die Sinne sich neu zu Menschen und Dingen und damit zu sich selbst ins Verhältnis zu setzen. Auch die Erörterungen zu Geschichten und Märchen dienten der Frage nach Bewusstheit für Beziehungsqualität und ob letztere für Kinder durch Erzählen von Geschichten gefördert werden könne. 4. Mit allen Sinnen lernen heißt: den Sinn mitlernen Ein Aspekt Didaktischer Phantasie I Aufgabe: Einen Zusammenhang herstellen zwischen a) der Eröffnungsübung zu Beginn des Seminars, b) dem dort verteilten Text von Oliver Sacks, c) dem Spiegelstadium des kl. Kindes, d) der Frau ohne Körper (O. Sacks), e) dem Straus-Zitat: „...der natürliche Stand des Menschen bleibt Widerstand“. Der Zusammenhang ist das Körperbild, das Körper-Ich, das leibliche Selbst oder einfach das Selbst. Dieses Selbst erscheint in a bis d unter verschiedenen Namen oder Kennzeichnungen. In der Eröffnungsübung ging es um Selbstwahrnehmung, insofern auf die Eigenwahrnehmung aufmerksam gemacht wurde. Wir können uns selbst nicht sehen, nur bestimmte Teile des Körpers. Dennoch entwickeln wir nicht nur ein Gefühl für Körperteile, sondern für den ganzen Körper, ein Körper"bild" als Ich-Bild oder als dem Ich-Bild zugehörig. Die Eigenwahrnehmung (Propriozeption) ist immer tätig und immer gegenwärtig, aber wir nehmen sie meist nicht wahr. In Übungen kann man auf die Eigenwahrnehmung und sein Körperselbst aufmerksam werden. Von dieser Leistung und Bedeutung der Eigenwahrnehmung spricht der verteilte Text von Oliver Sacks. Im kurz angesprochenen "Spiegelstadium" des kleinen Kindes betrachteten wir die Schwierigkeiten des Moments, in welchem ein Kind seine Ganzheit als Körperwesen zusätzlich zum Körpergefühl durch die virtuelle Realität eines Spiegelbildes sehen und erkennen soll. (Die angesprochenen Probleme: Der/die dort ist ein ganzes Wesen; zu sehen sind sonst nur Teile dieses Wesens. - Bin ich dieses Wesen? - Wenn ich dieses Wesen bin, wieso gibt es mich zweimal? - Es ist nur ein Spiegelbild.) Die Arbeiten von O. Sacks machen deutlich, wie sehr Menschen in ihrem Selbst(bild) gestört sind, wenn ihr Körperbild (ihre "Körpermelodie") gestört ist. Umgekehrt heißt das: das Körperbild ist die Bedingung des Selbst(bildes). Die körperlose Frau hatte in dem Maße sich verloren, wie sie ihr Körpergefühl verloren hatte. Stehen und Gehen erfordern den Widerstand gegen die Schwerkraft. Das kann man mit Erwin Straus als den naturgegebenen Grund für Widerstand in dem metaphorischen, moralischen/politischen Sinn sehen; ganz alltäglich: sich nicht treiben zu lassen, sondern selbst zu bestimmen. II. Formulierungen gedreht und gewendet, um das Gleiche klar zu machen: Leiblichkeit Im Blick auf das Nietzsche-Referat im Seminar soll die Klärung mit einigen weiteren Gedanken und Texten fortgesetzt werden. "Habe ich meinen Körper verloren, so habe ich mich selbst verloren. Finde ich meinen Körper, so finde ich mich selbst. Bewege ich mich, so lebe ich und bewege die Welt. Ohne diesen Leib bin ich nicht, und als mein Leib bin ich. Nur in der Bewegung aber erfahre ich mich als mein Leib, erfährt sich mein Leib, erfahre ich mich. Mein Leib ist die Koinzidenz von Sein und Erkenntnis, von Subjekt und Objekt. Er ist der Ausgangspunkt und das Ende meiner Existenz." (Vladimir Iljine in H. Petzold, Psychotherapie und Körperdynamik, Paderborn 21977, S. 5) Leiblichkeit ist die Ermöglichung der Aussage: Ich bin mein Leib. Ich bin leiblich. Ich bin mein Körper. Ich bin körperlich. "Leiblichkeit" bezeichnet die Beschaffenheit des Lebewesens Mensch. "Sinnlichkeit" kenn­zeichnet die Kommunikationsweise des Menschen. "Sinne" kennzeichnen die Beziehungswei­sen der Kommunikation. "Leiberfahrung" ist eine Tautologie, wenn und weil Erfahrung immer leiblich ist (am eigenen Leibe). Leiberfahrung ist Erfahrung am eigenen Leibe. Leiberfahrung ist die Erfahrung, dass ich leiblich bin. Ich musiziere als Leibwesen. Nicht: Die Hand/Finger sind der Exekuteur des musikalischen Willens. Sondern: Ich spiele, meine Hände spielen. Ich als Leib, nicht ein reiner Wille und ein unvollkommener Körper, der ausführt. Wir sind nicht an einen Leib gebunden, sondern wir sind Leib. Wir sind nicht Subjekte in einem Leib/Körper, sondern als Leib/Körper. (Schon der) Leib ist Subjekt, bereits "vor" dem sprachbewussten Nachdenken: z. B. im Ausdruck, in der sog. Körpersprache. Nicht der Körper spricht da, sondern ich bringe mich zum Ausdruck. - Und wer meinen Körper berührt, berührt mich. Ich bestehe nicht aus einem Willen, einem Körper und einem Verstand. Sondern: Ich bin, weil Leibwesen, befähigt, tätig zu sein. Tätigsein heißt, sinnvoll/sinnlos, vernünftig/unvernünftig, warmherzig/kaltherzig, begeistert/flach tätig sein. Selbst-erfahrung am Leib, als Leib, als Körper. Erfahrung des Selbst als ein leibliches. Leiblichkeit ist die Ermöglichung, sein Ich, sein Selbst oder sich und Selbst, sein Sein leiblich, körperlich zu erfahren. Erfahren ist nur leiblich möglich, zugleich mit einem synthetischen Apriori, das Sacks bei Kant findet und übernimmt. David Hume hatte behauptet, persönliche Identität sei eine Fiktion: "So kann ich wagen ... zu behaupten, dass [wir] nichts sind als ein Bündel oder ein Zusammen verschiedener Perzeptionen, die einander mit unbegreiflicher Schnelligkeit folgen und beständig in Fluss und Bewegung sind" (hier nach Sacks, "Bein", S. 219). Kant findet die Lösung, wie der einzelne die Perzeptionen vereinigt: durch eine synthetische Leistung als Formgebung; durch die Formgebung werden die Eindrücke zur Erfahrung verbunden; diese synthetisierende Leistung ist also Bedingung für Erfahrung; darum "eher" als Erfahrung: a priori. Sacks schreibt: "Ich hatte eine Erfahrung mit meinem 'Selbst' gemacht, die ich nicht leugnen konnte, aber die Neuropsychologie ließ kein Selbst zu. In dieser Krise nahm ich meine Zuflucht zu Kant. Hier fand ich etwas, was die Analyse mir nicht geben konnte: das Konzept synthetischer Anschauungen a priori, das Erfahrungen zuließ, organisierte und ihnen einen Sinn gab. Es war dies das apriorische intuitive Erfassen von Raum und Zeit, das die Erfahrung strukturieren und ein Erfahren von Ich oder Selbst untermauern konnte. Diese Formulierungen lieferten mir, so glaube ich jedenfalls, die Grundlage dessen, was ich eine 'klinische Ontologie' oder 'existentielle Neurologie' nannte - einer Neurologie des Selbst, das in Auflösung und Erschaffung begriffen ist" (S. 219). Die (gedanklichen) Abstraktionen leben nicht, sagt Hans Jonas in einem Aufsatz über die Geschichte des Dualismus. Lebendig sind allein die Leibwesen "Mensch", die fühlen und denken können, weil ihr Leib entsprechend organisiert ist. "In Wahrheit, wir wiederholen es, ist das reine Bewusstsein so wenig lebendig wie die ihm gegenüberstehende reine Materie, dafür auch ebenso wenig sterblich. Es lebt, wie abgeschiedene Geister leben, und kann die Welt nicht mehr verstehen. Ihm ist auch die Welt gestorben, so wie es der Welt" (S. 37). III Zu Oliver Sacks' Neurologie des Selbst Vgl. S. 211 in 'Bein' Die Störung des Körperbildes und Ich-Bildes ist eine Erfahrung der Störung von Selbstheit und zwar auf organischer Grundlage. Der Tonus fehlt in dem Glied, keine elektrischen Ströme. Die Störung wird als ein Verschwinden, Entfremdung, Derealisation empfunden. Das Gesundwer­den ist eine Re-realisation: ich bin wieder wirklich, ich fühle mich lebend, ich lebe, ich bin. Dasselbe gilt für Leiberfahrung. Leiberfahrung ist Ich-Erfahrung, ist Erfahrung von Leben, Sein, Selbst. Die klassischen Neurologen ließen nur Funktionen zu, ein Bein funktioniert oder nicht. Dass es verschwindet, ist unmöglich und unsinnig, weil es für diese Neurologie kein Subjekt gibt. Das Selbstkonzept entwickelt sich durch Tätigkeit. Deshalb wurde bei Leontjew aus der Neuropsychologie die Tätigkeitstheorie. In der tätigen Bewegung erfahre ich mich als Selbst. Das hat Konsequenzen für eine Pädagogik der Sinne: Selbsterfahrung durch Tun innerhalb einer Besinnung auf und durch die Sinne (deshalb evtl. "Streicheln des Baumes"; wenn man nicht weiß warum, ist es Beschäftigungs- und bloßer Sinnenspaß). Zum Verhältnis von Tun und Sinn vgl. die doppelte "Sinn-losigkeit" der Anweisungen im Beispiel von Sacks "Bein" S. 215 (die Anweisungen, das Bein zu bewegen, haben deswegen keinen Sinn, weil der Patient keinen Sinn für sein Bein hat). Also spricht man vielleicht besser von Leiberfahrung statt Körperbewusstsein. Körperbewusstsein trennt noch zu sehr bzw. ist zu organismisch (das "Wissen", das der Körper hat). Das pädagogische Ziel (worauf PdSinne "sinnt") lautet: Über die Erfahrung der eigenen Leiblichkeit (Sinnlichkeit, Sinne, Bewegung), die eigene Lebendigkeit begreifen, Lebenslust und Lebensfreude gewinnen, Zugehörigkeit zum Lebens-(Menschheits-)Prozess spüren und so sein Selbst im sozialen Sein (im Mitsein) schaffen. Leibsein = Lebendigsein = Dies zu spüren und zu begreifen, ist Sein als Mitsein = Sinn einer Pädagogik der Sinne ein Selbst sein Nur durch die Sinne gelangt Information in die Körper (= zu den Menschen) und nur durch die Sinne setzen sich die Körper in Beziehung zur Welt. In Tätigkeit ist beides enthalten. (Vgl. Dreigliedrigkeit des Weltbezugs in J. F. "Sinnlichkeit" S. 58f.) IV Stufen eines Lernens mit allen Sinnen oder der Ziele einer Pädagogik der Sinne in didaktischer Phantasie 1. Lebenslust (das belebende Moment, Animation) Es geht pädagogischem Tun (auch) um das Heute, das nicht dem Morgen geopfert werden darf, zumal das der Kinder und Heranwachsenden nicht. 2. Lernen und Erfahrung Mit allen Sinnen lernen, weil so erfolgreicheres Lernen möglich ist. Aber mehr noch: Lernen und Erfahrung. Zu Erfahrung gehört auch der Zusammenhang von Vernunft und Herz. Man lernt, mit Verstand und Herz zu sehen, also ganz dabei zu sein. Über die Erfahrung wird ein Selbst gebildet, also Selbstbildung ermöglicht (im Doppelsinn der selbständigen Bildung eines Selbst) und eine andere Beziehungsqualität zu Menschen und Dingen. 3. Gestalten als Lebensqualität Gestalten ist die andere Seite der Wahrnehmung (vgl. oben: Tun). Auch das alltägliche triviale Tun enthält Gestaltung, das Gehen und Sichkleiden z. B., das Wohnen, Sicheinrichten und Verschönern, die gesamte (Alltags-)Kultur, einschließlich Lebensrhythmus und Lebenskunst. Gestaltung in besonderer Weise sind Musik und Kunst. 4. Lebens-Erfahrung Mit Bindestrich geschrieben, weil Leben erfahren werden soll: meine eigene Lebendigkeit, zugleich mit der der Anderen und all des Anderen. Das ist der Sinn von KörperBewusstsein/Leiblichkeit, also auch der Sinn des Seminars; das ist der Sinn der PdSinne und des Lernens mit allen Sinnen. 5. Bewusstheit: Selbst und Selbstbestimmung "Mit dieser besonderen Wachheit der Sinne, dem vollen Dabei- und Bei-der-Sache-sein beginnt Bewusstheit. Sie hebt sich von besinnungsloser Routine ab, entgeht der Gefahr, nicht zu wissen, was man tut; sie unterbricht das pausenlose Rangehen, ist Atemholen; sie mindert die Gefahr der déformation professionelle. Sie sorgt dafür, dass wir nicht so sehr getrieben werden, sondern unsere Selbstbewegung wirklich eine solche ist. Während die Alltagsorientierung eine pragmatisch sich 'durchwurschtelnde' ist, ermöglicht Bewusstheit begreifendes Denken und Besonnenheit im Handeln" (J. F. Pädagogik der Sinne, S. 109). 6. Kontemplation und Einheitserfahrung. (Nicht Aktivismus, Beschäftigung, Business, sondern Be-sinnung.) Die Besinnung auf die Sinne hat eine Rehabilitierung kontemplativer Haltung erbracht. Sicher nicht schon eine einzelne Besinnung (in Übung, Spiel, Tun) erreicht diese tiefe Beziehungsqualität. Aber eine Praxis der PdSinne erreicht schließlich die Berührung mit Leben, so z. B. über Leiblichkeit als Lebendigkeit. Und als leibliche Lebendigkeit bin ich im Zusammenhang mit allem Lebendigen. Hierüber kann ich zu einer Einheitserfahrung mit dem ganzen Leben und Sein gelangen. 7. Politische Aufmerksamkeit Aufmerksamkeit darauf, dass Macht/Herrschaft/Gewalt oft im Verborgenen bleiben, weil nicht auf sie aufmerksam gemacht wird, sie verschleiert werden oder gar "weg-gedacht" werden. "So enthält Bewusstheit auch politische Aufmerksamkeit, sie ist nicht Dauerkontemplation. Als Wachheit für die Wirklichkeit legt sie nicht die Hände in den Schoß, sondern sinnt auf eingreifendes Handeln. 'Für die Wirklichkeit hellwach zu sein, bedeutet, dass man eine vollkommen produktive Orientierung erlangt hat', so war am Schluss des Kapitels 'Zuflucht zu den Sinnen' E. Fromm bereits zitiert worden. Diese Wachheit fördert 'alternative Energie'. In der Bewusstheit werden gesellschaftliche Verhältnisse als begrenzend erfahren, zugleich Ressourcen zur Veränderung und Erneuerung entdeckt" (PdSinne, S. 110f.) V. Beispiele Beispiele für was? Dafür, wie zu dem Wissen aus "Lernen mit allen Sinnen" die Haltung zum Wissen (sein Sinn) mitgelernt werden kann. Der Kristall Beispiel: Tautropfen an der Knospe (Beziehungsqualität in PdSinne, S. 112f.) Die Wellhornschnecke, zus. mit Krüss-Text "Meer" Nancy Hoenisch/Elisabeth Niggemeyer, Heute streicheln wir den Baum, Ravensburg 1981 Im Vorwort von Hellmut Becker heißt es: "...die Fähigkeit zur Liebe und Hingabe hängen unmittelbar von der erzieherischen Arbeit ab, die in diesem Buch gezeigt wird. Was dem Kind hier in seinen Begegnungen mit der Natur geschieht, wirkt sich dann in seinem ganzen Leben auf seine Beziehungen zu allen Arten körperlicher Realität, insbesondere zu seinen Mitmenschen aus" (S. 3). Weiter aus der Einleitung: Nancy Hoenisch S. 8. - Die Lehrerin Nancy Hoenisch geht in ihrer Seinsverbundenheit mit den Kindern sehr weit, bis hin zu einem Glauben, dass Pflanzen unter Kinderstimmen besser gedeihen. Sie überschreitet also das im strengen Sinne Wissbare (vgl. S. 64). Rudolf Seitz, Hrsg., Seh-Spiele. Sinn-volle Frühpädagogik, München 1982 Wolfgang Löscher, Hör-Spiele. Sinn-volle Frühpädagogik, München 1982 Rudolf Seitz, Hrsg., Tast-Spiele. Sinn-volle Frühpädagogik, München 1983 Wolfgang Löscher, Riech- und Schmeck-Spiele. Sinn-volle Frühpädagogik, München 1983 Auch diese Bücher sind sehr geeignet, über sinnliches Erfahrungslernen die Haltung zum Wissen und Sinn desWissens mitlernen zu lassen. Der Herausgeber des ersten Bandes lässt das in seiner Zielsetzung noch nicht deutlich werden: "Vielleicht helfen solche Spiele mit, die Arbeit mit Kindern im Vorschul- und im frühen Grundschulalter wieder sinn-voller und damit kindgemäßer zu machen. Wir hoffen, dass dem Buch der Spaß zu entnehmen ist, den uns selbst diese Arbeit bereitete." (S. 7). Die Sinne zu fördern, zu schärfen, Spaß, gar Freude zu machen und zu haben, sind gute und schöne Ziele. Sie erreichen aber erst ihre tiefe Beziehungsqualität, wenn Bildung der Sinne Verstandes-, Herzens- und Sinnbildung ist. Aus dieser Haltung und zu diesem Ziel sind die Bücher durchaus zu gebrauchen. Maria Frahling u. a., Raum und Zeit für uns! - Das Bewegungs- und Kommunikationszentrum in Brochterbeck. In: Mädchen stärken. Probleme der Koedukation in der Grundschule, G. Pfister, R. Valtin, Hrsg. für Arbeitskreis Grundschule, Frankfurt am Main 1993, S. 186 - 194. Darin auch: Gertrud Pfister, Der Widerspenstigen Zähmung. Raumaneignung, Körperlichkeit, Interaktion, a. a. O., S 67 - 83 Projekt: Kinder entdecken Stadt-Natur. Ludwig Feuerbach in "Wider den Dualismus von Leib und Seele, Fleisch und Geist" (1846). In: Werke in sechs Bänden, hrsg. v. Erich Thies, Bd. 4: Kritiken und Abhandlungen III (1844 - 1866), Frankfurt am Main 1975 "Ist das Wesen des Menschen, die Sinnlichkeit, nicht ein gespenstisches Abstrak­tum, der 'Geist', so sind alle Philosophien, alle Religionen, alle Institute, die diesem Prinzip widersprechen, nicht nur irrtümliche, sondern auch grundverderbliche. Wollt ihr die Menschen bessern, so macht sie glücklich; wollt ihr sie aber glücklich ma­chen, so geht an die Quellen alles Glücks, aller Freuden - an die Sinne. Die Vernei­nung der Sinne ist die Quelle aller Verrücktheit und Bosheit und Krankheit im Men­schen; die Bejahung der Sinne die Quelle der physischen, moralischen und theoreti­schen Gesundheit. Die Entsagung, die Resignation, die 'Selbstverleugnung', die Abstraktion macht den Menschen finster, verdrießlich, schmutzig, geil, feig, geizig, neidisch, tückisch, boshaft, aber der Sinnengenuss heiter, mutig, nobel, offen, mittei­lend, mitfühlend, frei, gut. Alle Menschen sind gut in der Freude, böse in derTraurig­keit; aber die Quelle der Traurigkeit ist eben die, sei's nun freiwillige oder unfreiwil­lige, Abstraktion von den Sinnen." Expressivität Sie ist dadurch gegeben, dass beim hochentwickelten Lebewesen Mensch Körper und Bewegung zugleich Funktion und Ausdruck sind. Leiblichkeit ist nicht blo­ßes Körpersein, sondern Verkörperung. Diese Erkenntnis ermöglichte und begründete an der Folkwangschule das moderne Tanztheater: die Bewegungen senden nicht eine Botschaft aus ("sagen" nichts), sondern sind, was sie sind: stehen, gehen, drehen, groß, weit, klein, eng, ausgreifen, krümmen, fallen, liegen, vereinzelt, im Ensemble etc. Vgl. Rudolf von Laban. Der in der Bewegung selbst liegende Ausdruck und Eindruck und die mögliche Wirkung können absichtlich arrangiert werden (Choreographie). Darin liegt die Möglichkeit einer Aussage/Bedeutung. Was also im Tanztheater künstlerisch ge­nutzt wird, liegt in jeder Alltagsbewegung vor. Ähnliches gilt für den Schauspieler. Menschen sind als geschichtliche Lebewesen durch einen Ausdrucks- oder Ver­körperungszwang ausgezeichnet und zugleich durch einen Ausdrucks- oder Verkörperungswillen. Der von uns aktuell gegebene und der uns aktuell begeg­nende Ausdruck beruhen also auf Zwang und Willen (unwillkürlich, willkür­lich). Ausstrahlung ist nur ein anderes Wort für diese Verkörperung; es meint oft eine besonders eindrucksvolle und eindringliche Verkörperung. Da sich die Verkörperung in Tätigkeit/Arbeit/Handlung vollzieht - woraus die spezifische Geschichtlichkeit der Menschen geworden ist und besteht -, ist sie geschichtlichem Wandel unterworfen. Zeichen Zeichen zeigen auf etwas, be-deuten etwas, sind insofern Stellvertreter. Menschen sind (zunächst) nicht Zeichen, auch nicht ihre Gesten und Handlun­gen. Ihre Gestalt, ihr Ausdruck, ihr Blick, ihr Lachen und Gehen sind sie selbst, nicht Zeichen für etwas. Falls sie durch sich etwas mitteilen, teilen sie sich selbst mit. ("Zeigen" Menschen als solche schaffenden Lebewesen einen besonderen Sinn von Sein an? Tönt durch sie etwas hindurch - personare? Vgl. George Steiner.) Menschen kleiden und schmücken sich, statten sich aus. Das unterliegt der Mo­de und diese den Gesetzen der Wirtschaft: dem Kapitalverwertungsgesetz (kurz: Wertgesetz). Aufgrund der Marktgesetze stehen die einzelnen zueinander in Konkurrenz und in einem allgemeinen Tauschzusammenhang. Nicht nur Lei­stung und Waren, Marken und Outfit sind von diesem Zusammenhang gezeich­net, sondern auch Gebaren, Gehabe und Habitus, die Verkörperung. Dadurch kommt es, dass wir in Outfit, Gehabe und Verkörperung zugleich Zeichen geben und sind. Die einzelnen signalisieren einander einen bestimmten Status, Rangplatz, ihre Verwicklung in das Wertgesetz. Das zuletzt Angesprochene liegt der Wahrnehmung und der gelernten Wahr­nehmungsweise am nächsten. Da dies Letztere aber ohne das Erstere nicht sein kann, vielmehr in ihm ermöglicht ist, und insofern beide nicht deckungsgleich sind, bleibt auch die Möglichkeit, tiefer wahrzunehmen. In der Selbstäußerung und -mitteilung bringt sich dann mehr zum Ausdruck, als die Zeichen bedeuten.