Auszug aus: Klaus Mollenhauer, Theorien zum Erziehungsprozess, München 1972, S. 12 Es ist die Annahme sinnvoll, dass jeder Erziehungsvorgang in den Merkmalen seines Vollzuges politische Implikationen enthält. Der Erwachsene bleibt auch als Erziehender ein Erwachsener in einem bestimmten gesellschaftlich-politischen Kontext. Er gibt seine Berufsrolle nicht auf, wenn er Vater ist; er gibt seine Rolle als Interessenvertreter nicht auf, wenn er Lehrer ist; er gibt seine Abhängigkeit von einem Anstellungsträger nicht auf, wenn er Heimerzieher ist; er gibt seine Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe, zu einer Klasse, seine ökonomischen, seine Macht- und Prestigeinteressen nicht auf, wenn er erzieht. Kurz: die Tatsache, dass er in einem durch Herrschaft strukturierten gesellschaftlichen Kontext lebt, kann er zwar verleugnen, er kann sie aber nicht abschaffen; jedenfalls nicht im Vollzug seines pädagogischen Handelns. Unter diesem Aspekt erscheint also der gesellschaftliche Kontext als die »Basis« der Erziehung, seine politischen Komponenten gehören somit auch zu den Basis-Komponenten des Erziehungsvorgangs. Erziehung ist nicht ein politisches Exterritorium, in dem die Tatsache der Herrschaft und ihrer ökonomischen Bedingungen suspendiert wäre. In diesem Sinne können die materiellen Spielräume, die durch den sozialen Ort eines bestimmten Erziehungsfeldes gegeben sind, nicht lediglich als Randbedingungen in die erziehungswissenschaftliche Analyse eingebracht werden, sie gehören zu ihren konstitutiven Komponenten. Auszug aus: Günter Hartfiel, Hrsg., Das Leistungsprinzip, Opladen 1977, S. 36f. Hochmotivierte Eltern, frühe Selbständigkeitserziehung, belohnendes und strafendes ebenso wie regulierendes und einschränkendes Verhaltenstraining, emotionale Zuwendung im intakten Familienmilieu, elterliche Vorbildfunktionen und Identifikationsangebote, individualistische und langfristig ausgerichtete Planungsperspektive, Gewöhnung an aufgeschobene Bedürfnisbefriedigungen, „sanft“ und bruchlos überstandene Autoritäts‑ und Identitätskrisen in der Abfolge der Entwicklungs‑ und Ablösungsphasen, – das sind die immer wieder hervorgehobenen Milieufaktoren, von denen man annimmt, dass sie auch prädisponierend auf Schul- und Arbeitsverhalten weiterwirken. Es liegt auf der Hand, dass solche Faktoren nur dort realisiert werden können, wo die sozio-ökonomische Gesamtsituation und die spezifischen Erfahrungsinhalte der Elternteile die Voraussetzungen dafür schaffen. Mit anderen Worten: Erziehungsnormen, Erziehungsstile und -methoden der Eltern sind immer auch ein Ergebnis der Persönlichkeitsstrukturen, Attitüden, Gesellschaftsvorstellungen, Leitbilder u. a. der Eltern selbst. Diese wiederum werden entscheidend, weil tagtäglich verstärkt, von der Arbeits- und Berufserfahrung geprägt. Darum wird der Grad der Leistungsmotiviertheit immer wieder in enger Korrelation mit der „Höhe“ der Sozialschicht-Zugehörigkeit festgestellt. Wo Leistungsmotivation, kreative Eigeninitiative, Entscheidungshandeln, Planungsüberlegungen, Reflexion, „Beherrschung“ und rationales Argumentieren ohnehin das beruflich geformte soziale Erlebensklima sind, dort haben Kinder und Jugendliche höhere Chancen zur Entwicklung von Leistungsmotivation. In Abhängigkeit und Fremdbestimmung, in Routine und dumpfer Gewöhnung ständig repetitiv erlebte Arbeitswelt wird über die Eltern in die Familiensituation hineinwirken und dort heranwachsende Kinder von vornherein benachteiligen müssen. Andererseits ist aber genauso bekannt und einsichtig geworden, dass nach dem Leistungsprinzip und seinen anreizenden Konkurrenzbedingungen überspitzt aufgebaute Organisationsstrukturen in der Arbeitswelt nicht nur ungeheure, physisch und psychisch zerstörende Streß-Situationen für die Beschäftigten erzeugen, sondern ebenfalls in das „private“ Familienklima hineinwirken. Menschen, die in der täglichen Berufspraxis ihr soziales Dasein ausschließlich als Bewährungsfeld erfahren, bei denen Statusängste und Aufstiegshoffnungen das inhaltliche Interesse an ihrer Arbeit überlagern und zu Grundzügen ihrer Sozialmentalität werden, finden sich nicht nur damit ab, sich selbst und ihre beruflichen Beziehungspersonen als Manipulations-„Objekte“ von Organisationsinteressen zu interpretieren. Sie übertragen solche „Wertbilder" auch auf ihr erzieherisches Autoritäts- und Forderungsverhalten in der Familie, erziehen ihren Kindern Leistungsmotivation an, ohne gleichzeitig die Fähigkeit zu rationaler Einsicht in die gesellschaftlichen Inhalte und Sinnbezüge zu entwickeln, für die solche Leistungsmotivation eingesetzt wird. ΕΓΚΥΚΛΙΟΣ ΠΑΙΔΕΙΑ εγκυκλιος παιδεια Zusammenfassung nach H. Koller, Enkyklios Paideia (1955). In: H.‑Th. Johann, Hrsg., Erziehung und Bildung in der heidnischen und christlichen Antike, Darmstadt 1976, S. 3 ‑ 21, Zitate S, 15 ‑ 19 Aus Theaitet und den später beigezogenen Texten lässt sich also folgender Grundgegensatz zwischen banausischem Leben und dem musisch erzogenen Freien, der die εγκυκλιος παιδεια genossen hat, erschließen: τέχνη εγκυκλιος παιδεια [μουσική] βάναυσος, τέχνικος πολίτης δουλος ελευθερος απαιδευτος, ακυκλιος πεπαιδευμένος, ευπαίδευτος άμουσος φιλομουσος ασχολία σχολή Alle diese Bestimmungen bleiben der εγκυκλιος παιδεια für alle Zukunft anhaften, auch nachdem sich ihr Inhalt, wie wir anschließend sehen werden, grundsätzlich gewandelt hat. Erst jetzt sind wir in der Lage, den früheren Faden wieder aufzunehmen. Ev κυκλο παιδευειν kann nur heißen, musisch erziehen, und zwar im κυκλος des Chores freier attischer Bürger. Wer diese Erziehung nicht genossen hat, ist unfreier Banause, ist ακυκλιος und απαιδευτος wie der Komiker Platon (Bekkers Anecdota 373, 21) sagte: ακυκλιος ο απαιδευτος παρα Πλάτωνι. Der Ausdruck ακυκλιος setzt das für diese Zeit noch nicht belegte εγκυκλιος voraus! Εγκυκλιος παιδεια ist also ursprünglich nicht die triviale, elementare Schulung in abschätzigem Sinne, sondern die bei der Pflege des κυκλιος χορός erworbene musische Bildung in den drei Bereichen des griechischen Wortes: Rhythmus Harmonie Logos oder Tanz musikalische Rezitation und Schulung i. e. S. Dichterkenntnis Oder als `Fächer' der echten εγκυκλιος παιδεια: Grammatike, d. h. Lesen, Gesang mit der Kithara und Tanz. Nun wird aber mit der Rhetorisierung des griechischen Wortes (welche ein sehr komplizierter Vorgang ist und hier nicht erschöpfend behandelt werden kann) in der zweiten Hälfte des fünften Jahrhunderts auch die εγκυκλιος παιδεια rhetorisch oder philosophisch. Die bunten Farben der musischen Paideia verblassen immer mehr, und schemenartiger wird damit auch die εγκυκλιος παιδεια. Infolge der Auflösung der alten Musike werden nun die einzelnen Disziplinen selbständig. Εγκυκλιος παιδεια wird dadurch zum Sammelnamen für alle propädeutischen Fächer, die ursprünglich mit dem griechischen Wort zusammengehangen hatten. Nun treten auch andere Dinge hinzu, Geometrie infolge der musikalisch‑mathematischen Interessen der sogenannten Pythagoreer, ebenso Astronomie (man denke an die akustischen Entdeckungen und die daran anschließenden kosmologischen Spekulationen!), Dialektik, als Folge der Umdeutung der alten musischen Erziehung durch Platon (s. oben S. 9 f.). Schließlich werden alle diese Fächer zusammen - denn jetzt muss man von `Fächern' sprechen ‑ Propädeutik für den Rhetor, woraus sich die eigentümliche Beschränkung der Fächer unter Ausschluss der Naturwissenschaften, der Geschichte usw. erklärt. In dieser abgeschlossenen Form werden sie durch die Jahrhunderte in der rhetorischen Tradition weitergegeben. Wohl die für die Zukunft bedeutendste Formulierung des neuen Sachverhaltes findet sich bei Quintilian in der Institutio I 10, 1. Nach Behandlung der Grammatik führt er aus: Nunc de ceteris artibus, quibus instituendos, priusquam rhetori tradantur, pueros existimo, strictim subiungam, ut ef ficiatur orbis i11e doctrinae, quem Graeci εγκυκλιον παιδειαν vocant. Im Bewußtsein Quintilians bedeutet also εγκυκλιος παιδεια Allgemeinbildung am Kreis (κυκλος!) der Fächer, also all der Gebiete, die sich aus der ursprünglichen Einheit griechischer musischer Erziehung herausgelöst und selbständig gemacht haben und hier wieder zur Summe von Fächern zusammengefügt werden. Es ist sehr bezeichnend, dass wir die Deutung des κυκλος im Wort εγκυκλιος als Kreis von Wissenschaften zuerst auf lateinischem Gebiete antreffen! Eine solche Deutung im griechischen Sprachgebiet ist mir nie begegnet und im Griechischen auch gar nicht denkbar. Aber welcher Wandel ist hiermit vollzogen! εγκυκλιος παιδεια ist fortan die Schulung am ganzen Kreis der Wissenschaften überhaupt. Bestimmend für das Mittelalter und die Schultradition wurde Quintilian. Auszug aus: J. Henningsen, Enzyklopädie. Zur Sprach‑ und Bedeutungsgeschichte eines pädagogischen Begriffes. In: Archiv für Begriffsgeschichte, Bd. 10, Bonn 1966, S. 271-357, Zitat S. 304-309, 344f. 6. Kapitel Die moderne „encyclopaedia" des 15. bis 17. Jahrhunderts im Verhältnis zur überlieferten εγκυκλιος παιδεια § 47 Im Vorangehenden wurde mehrfach festgestellt, „encyclopaedia" sei eine gelehrte Rückübersetzung, die im Interesse humanistischer Gelehrsamkeit Vorstellungen, die an dem Begriff eines zeitgenössisch verstandenen „orbis doctrinarum" orientiert waren, auf eine klassische Tradition zu beziehen versuchte, gewissermaßen eine Gräzisierung ähnlich der, die die Autoren des ausgehenden 15. Jahrhunderts bewog, ihre Opera statt mit „finis" mit dem vornehmeren τέλος zu beenden. Dass jene Vorstellungen verhältnismäßig verschwommen waren, wird einmal deutlich daraus, dass man teils an κυκλος (Regius), teils an eine εγκυκλιος παιδεια (Barbarus) anknüpfen zu können meinte ‑ eine Streitfrage, die jahrhundertelang (vgl. noch § 56) weiter in den Auseinandersetzungen, ob „cyclopaedia" oder „encyclopaedia" richtig sei, zu erkennen ist ‑, und wird zum anderen deutlich daraus, dass sehr bald schon Werke, die mehr, weniger oder anderes enthielten als die ursprünglich der εγκυκλιος παιδεια zugeordneten Fächer des enkyklischen Lehrplanes, als „encyclopaedia" bezeichnet werden konnten. Welcher Art diese durch die humanistischen Grammatiker und ihre Nachfolger vorgenommene Umdeutung der Überlieferung war, ist nicht ganz einfach auszumachen, da trotz zahlreicher fundierter Arbeiten die Ansichten über die „ursprüngliche" Bedeutung der εγκυκλιος παιδεια geteilt sind157). Das folgende Referat (§§ 48‑53) geht an keiner Stelle über die einschlägigen Untersuchungen hinaus und versucht lediglich einen für den vorliegenden Zusammenhang notwendigen Ansatzpunkt herauszuarbeiten. § 48 Wir skizzieren die Geschichte des Begriffs παιδεια mit einem Zitat Werner Jaegers, dessen komprimierte Darstellung für unseren Zusammenhang ausreicht: „In die Zeit des Sophokles fällt der erste Aufschwung einer für die Folgezeit unschätzbar wichtigen geistigen Entwicklung..., der Ursprung der im engeren Sinne sogenannten Bildung, der ,Paideia'. Erst in dieser Zeit hat das Wort, das im 4. Jahrhundert und während des Hellenismus und der Kaiserzeit seine Geltung und seinen Begriffsumfang immer weiter ausdehnte, die Beziehung auf die höchste menschliche Arete erhalten und wurde aus ,Kinderzucht` ‑ diesen einfachen Sinn hat es noch bei Aischylos, wo es sich zuerst findet ‑zum Inbegriff des idealen körperlichen und seelischen Geformtseins der Kalokagathie, die jetzt zum erstenmal bewusst auch eine eigentliche Geistesbildung einschließt. Für Isokrates, Plato und ihre Zeit steht diese umfassende neue Bedeutung der Bildungsidee schon fest158). § 49 Das Wort εγκυκλιος kommt vor159) 1. in der Bedeutung „kreisförmig, rund" (εγκυκλιοι χόροι, το εγκυκλιον σωμα, εγκυκλιος κινησις, εγκυκλιος φορά); 2 in der Bedeutung „wiederkehrend, sich im Kreis bewegend" (λητουργίαι εγκυκλιοι = jährlich regelmäßig stattfindende öffentliche Dienstleistungen, εγκυκλιοι δίκαια = allen Bürgern gemeinsame Rechte), 3. in der Bedeutung „gewöhnlich, alltäglich" (εγκυκλιοι διακονίοι = alltägliche Pflichten). Vor allem diese dritte Bedeutungsrichtung des Wortes hat in der Diskussion um das Verständnis von εγκυκλιος παιδεια eine Rolle gespielt. Außer Burnet und Colson hat besonders Friedrich Fuchs gegenüber der herkömmlichen Auffassung, εγκυκλιος παιδεια sei die „allgemeine", „nicht‑fachliche" Bildung des Freien, geltend gemacht, dass man richtiger von εγκυκλιος = „alltäglich, gewöhnlich" ausgehe. Leitend für diese Auffassung sei die Stelle aus der Politik des Aristoteles: εκει γαρ λαμβανων τις μισθον εδιδασκε τα εγκυκλια διακονηματα τους παιδας ... οιον οψοποιικη και ταλλα τα τοιαυτα γενη της διακονιας ‑ „er unterwies die Sklaven in den gewöhnlichen Bedientenverrichtungen wie der Kochkunst"160). Man müsse von dieser Bedeutung ausgehen, wenn man die εγκυκλιος παιδεια verstehen wolle. Bei Aristoteles seien τα εγκυκλια φιλοσοφηματα oder auch einfach τα εγκυκλια = τα εξοτερικά, d. h. für Außenstehende bestimmt161). Bei Hesych heiße es dann kurz und bündig: εγκυκλια μαθηματα τα έξω162). Wir kommen auf diese Auffassung noch zurück. § 50 Die Wendung εγκυκλιος παιδεια ist im vierten Jahrhundert v. Chr. nicht belegt; Aristoteles hat sie nicht. Kühnert hat jedoch gezeigt, dass am Ende des 4. Jahrhunderts „Zenon den Ausdruck εγκυκλιος παιδεια sehr wohl schon gebraucht haben kann"163). Er verweist dazu u. a. auf Diogenes Laertius (VII, 32) und Stobaios (II, 206, 26) und auf das hier weiter unten noch zu zitierende Penelope‑Gleichnis nach Stobaios (III, 246,1), der es Ariston von Chios zuschreibt, während Diogenes Laertius (II, 79) es Aristippos zuschreibt, was sogar, wenn dies Zeugnis zuverlässig wäre, den Ausdruck εγκυκλιος παιδεια schon für das 4. Jahrhundert als festen Terminus voraussetzen würde. Die Wörterbücher verzeichnen die frühesten Stellen bei Dionysios von Halikarnassos (1. Jh. v. Chr.) und Plutarch (ca. 50 n. Chr. bis 125 n. Chr.). In De compositione verborum schreibt Dionysios, er verachte Einwände von Leuten της μεν εγκυκλιου παιδειας απειρων164). In den Moralia lässt Plutarch durch Lysias von Soterichos sagen, dieser habe sich ου μονον περι μουσικην αλλα και περι την αλλη εγκυκλιον παιδειαν bekümmert165'). Man meint also eine bestimmte Bildung und ein Wissen, das ein Erwachsener sich angeeignet haben muss, wenn er mitreden will. Gegen die Annahme, das Wort sei hier schon ein fester terminus technicus, sprechen die zahlreichen Abwandlungen wie τα εγκυκλια, τα εγκυκλια παιδευματα, η εγκυκλιος αγωγη, η εγκυκλιος τεχνη. Nun müsse man aber ‑ so Kühnert ‑ von dem Ausdruck εγκυκλιος παιδεια selbst ausgehen, wenn man dessen Bedeutung erfassen wolle, nicht von dem Adjektiv εγκυκλιο. Dann werde zunächst deutlich, dass die Bedeutung „allgemein, nicht‑fachlich" bereits in παιδεια liege. Andererseits sei zwar die Bedeutung „alltäglich, gewöhnlich" für das Adjektiv εγκυκλιος seit dem 4. Jahrhundert häufig, in Zusammensetzung mit παιδεια aber zweifelhaft, da an keiner Stelle εγκυκλιος παιδεια direkt ,.gewöhnliche Bildung" meine; „eine solche Auffassung wäre auch ganz undenkbar, da die enzyklische Bildung zu keiner Zeit die gewöhnliche alltägliche Bildung gewesen ist, vielmehr ihre Besonderheit gerade darin besteht, dass sie über die gewöhnliche, d. h. elementare Bildung hinausgeht166). So bleibe nur die Möglichkeit, εγκυκλιος „in seiner ursprünglichen [?] Bedeutung aufzufassen und unter εγκυκλιος παιδεια zu verstehen eine ,allgemeine, nicht‑fachmännische Bildung, die der Freie [alles das stecke schon in παιδεια] sich an einem (mehr oder weniger) bestimmten Kreis von Lehrgegenständen erwirbt"167). Damit stimmten auch die antiken Zeugnisse überein, die ausnahmslos bei der Erklärung des Ausdrucks die räumlich‑geometrische Bedeutung des Adjektivs εγκυκλιος zugrunde legten. (Allerdings dürfe diese räumlich‑geometrische Bedeutung „Kreis" nicht mit Koller168) dahingehend verstanden werden, als handele es sich ursprünglich um eine Bildung, die im „chorischen Kreis", im κυκλιος χορος gewonnen werde.) Zu Kühnerts Deutung mit Hilfe der Metapher „Kreis" und seiner Ablehnung der Übersetzung „gewöhnliche Bildung" seien, um die stärksten Argumente der bisherigen Forschung noch einmal zur Geltung zu bringen, zwei Anmerkungen gemacht. 1. Nicht nur die lateinische Übersetzung basiert, wie Koller gezeigt hat, mit dem Begriff „orbis" auf einer falschen Etymologie; auch die späteren griechischen Deutungen der εγκυκλιος παιδεια von κυκλος her konstruieren diese Etymologie nachträglich im Blick auf die Lehrgegenstände, die als einen Kreis bildend aufgefasst werden. Wir kommen darauf noch zurück. 2. Zweifellos setzte, wie Kühnert zuzustimmen ist, die εγκυκλιος παιδεια auch immer schon μουσικη und γυμναστικη voraus, war dieser „elementaren" Bildung gegenüber also nicht eine „gewöhnliche, alltägliche" Bildung. Dennoch war die εγκυκλιος παιδεια „gewöhnlich, alltäglich" im Hinblick auf das, was mehr war als „bloße" εγκυκλιος παιδεια, nämlich die φιλοσοφια: der εγκυκλιος παιδεια bedarf man als Freier im gewöhnlichen Leben, die φιλοσοφια aber ist die eigentlich wahre παιδεια (Fuchs)169). Der Gegensatz zwischen der εγκυκλιος παιδεια als bloßer elementarer Vorbildung und der Philosophie als dem Ziel der eigentlich vollgültigen Bildung, der zur Zeit Platos die Geringschätzung der εγκυκλια zur Folge hatte, kann immerhin durch eine relativ große Zahl von Belegstellen einsichtig gemacht werden. Am berühmtesten ist das oben schon erwähnte Bild von der Penelope (= der Philosophie) und ihren Mägden (= τα εγκυκλια παιδευματα), das Diogenes Laertius dem Aristipp, Stobaios dem Ariston von Chios zuschreibt: τους των εγκυκλιων παιδευματων μετασχοντας φιλοσοφιας δε απολειφθεντας ομοιους ελεγεν ειναι τοις της Πηνελοπης μνηστηρσι ‑ die nämlich Melantho, Polydora und die übrigen Dienstmädchen gewannen, nicht aber die Herrin selbst170). Andererseits weist Marrou darauf hin, dass eigentlich nur die Philosophen selbst und ihre Schüler ein Interesse hatten, die εγκυκλια als nicht zur eigentlichen Bildung hinreichend aufzufassen; seit das Programm der εγκυκλιος παιδεια die Rhetorik in sich aufgenommen habe, sei es schon über den Bereich des höheren Unterrichts hinausgegangen. „Es konnte einen Schüler des Isokrates in jeder Hinsicht befriedigen“171). Trotz dieser Bedenken scheint uns die Auffassung von εγκυκλιος παιδεια als „landläufige, gewöhnliche" Bildung, wie sie von Burnet, Norden, Colson, Fuchs u. a. vorgetragen wurde, überzeugend. Erst als die Gehalte dieser εγκυκλιος παιδεια eine charakteristische Wandlung erfahren, legte sich die Vorstellung eines „Kreises" nahe. § 51 Diese Wandlung wäre etwa folgendermaßen zu kennzeichnen. Zunächst verschwindet der Gegensatz zwischen der Philosophie und der „gewöhnlichen" Bildung, als später die Philosophie selbst in den Kanon der εγκυκλιος παιδεια hineingezogen wird. Diese Entwicklung wird vorbereitet durch die jüngere Stoa: Poseidonius interpretiert die εγκυκλιοι τεχναι ausdrücklich als προπαιδευματα zur Philosophie. Diogenes Laertius führt diese Vorstellung zurück auf Xenokrates: dieser habe jemandem, der bei ihm hören wollte, ohne vorher die μουσικη, die γεωμετρια und die αστρονομια gelernt zu haben, erklärt: πορευου, ... λαβας γαρ ουκ εχεις φιλοσοιας ‑ „du bringst nichts mit, worauf die Philosophie sich stützen könnte!"172). Klassisch formuliert wird diese Auffassung dann bei Philon: θεραπαινις δε σοφιας η δια των προπαιδευματων εγκυκλιος μουσικη και λογικη, worunter Grammatik, Geometrie, Astronomie, Rhetorik, Musik und die gesamte übrige λογικη θεωρια verstanden werden173). Durch die Kirchenväter, vor allem durch Klemens von Alexandrien und Origenes, wird diese Kennzeichnung der εγκυκλιος παιδεια als προπαιδευματα übernommen, jetzt aber nicht zur Philosophie, sondern zur Theologie174). Die εγκυκλια werden wie bei Philon als θεραπαινις σοφιας interpretiert, nun allerdings der göttlichen, nicht mehr der philosophischen Weisheit; sie werden in einem neuen Sinn auch wieder als exoterisch verstanden: dem τα εξω bei Hesych175) entspricht jetzt η εξω σοφια, wie in Byzanz die heidnisch‑antiken Studien genannt werden (Fuchs)178). Hierbei wird nun auch die Philosophie unter die προπαιδευματα eingereiht und so ein Bestandteil des Kanons, der dann als εγκυκλιος παιδεια überliefert wird. Ein Scholiast des Gregor von Nazianz (ca. 329‑389 n. Chr.) notiert: εγκυκλιον παιδευσιν φασι και την καθολου ειναι, οιον γραμματικην, ρητορικην, φιλοσοφιαν [!] και μαθηματικην και πασαν, ως επος ειπειν, τεχνην και επιστημην 178). In gleichem Sinn definiert das Lexikon des Zonaras: εγκυκλιος: η γραμματικη, η ποιητικη, η ρητορικη, η φιλοσοφια [!], η μαθηματικη και απλως πασα τεχνη και επιστημη178). Damit erst war es möglich geworden, alles (weltliche) Wissen als wesentlich gleichrangig und einen „Kreis" bildend aufzufassen. Diese Vorstellung eines „Kreises" wird ausdrücklich erwähnt; das schon genannte Scholion zu Gregor von Nazianz schreibt, ein σοφος müsse durch die εγκυκλιος παιδευσις hindurchgehen (περιιεναι) ωσπερ δια τινος κυκλου179). Ebenso erklärt das Lexikon des Zonaras εγκυκλιος: δια το περιιεναι ταυτα τους σοφους ωσ δια τινος κυκλου180). Damit war, geleitet von einem Wissen um die Etymologie des Wortes εγκυκλιος, in die εγκυκλιος παιδεια ein tieferer Sinn hineingetragen, als er der Sache nach in der Überlieferung hätte gefunden werden können. § 52 „Es gab ... keinen genau entsprechenden lateinischen Ausdruck für εγκυκλιος παιδεια" (Kühnert)181). Eine der oben skizzierten Entwicklung entsprechende Auffassung der εγκυκλιος παιδεια als eines in sich geschlossenen, in der Bildung zu durchlaufenden „Kreises" war von den Römern aus dem Fremdwort „encyclios"182), das als gelehrte Vokabel sich etymologischer Deutung geradezu anbot, entwickelt worden. Diese Auffassung wird deutlich in Quintilians Übersetzung „orbis doctrinae" und bei Vitruv, der die „encyclios disciplina" als die in sich zusammenhängende, abgerundete organische Einheit sämtlicher Wissenschaften („uti corpus unum ex his membris est composita")'"3) versteht. Hatten wir oben die christliche Interpretation alles weltlichen Wissens - die Philosophie mit einbegriffen ‑ als θεραπαινις σοφιας als den Hauptgrund für die Bedeutungswandlung des Begriffs εγκυκλιος παιδεια erkannt, so muss für die römische Umdeutung ein anderer Grund namhaft gemacht werden. Er darf gesehen werden in einer aus der Rezeption einer überlieferten Kultur sich ergebenden Verpflichtung, das Wissenswerte zu Unterrichtszwecken zu kanonisieren. Die Überlieferung an Wissen und Wissenschaften zerfiel dabei in verschiedene „Fächer", deren Abgrenzung und innerer Zusammenhang wesentlich durch den Schulzweck gewährleistet waren. Das Insgesamt dieses verfügbaren Wissens bildete nun einen „Kreis", auf dessen Durchmessung niemand, der vor Gericht oder in der Volksversammlung mitreden wollte, verzichten durfte. Dass dieser Kreis des Wissens nur als propädeutisch für die eigentlichen Berufsstudien galt, entspricht der oben skizzierten christlichen Interpretation, nach der die εγκυκλιος παιδεια als Kreis des gesamten weltlichen Wissens nur θεραπαινις σοφιας ist. § 53 Diese strukturelle Ähnlichkeit der Vorstellungen bei den Römern und den Kirchenvätern ist wohl der Grund der Möglichkeit, im Mittelalter die beiden Auffassungen in eine zusammenfallen zu lassen: die εγκυκλιος παιδεια umfasst wie die „encyclios disciplina" (= orbis doctrinae) alles nicht spezifisch theologische bzw. nicht berufsbezogene Wissen, insofern es überliefert, anerkannt und damit lehr‑ und lernbar ist. Inhaltlich fällt diese Bestimmung für eine lange Zeit zusammen mit den artes Grammatik, Rhetorik, Dialektik, Geometrie, Arithmetik, Astronomie und Musik, wozu bisweilen Medizin und Architektur hinzugefügt werden, bisweilen auch Zeichnen, Kriegskunst, Rechtswissenschaft und anderes. Auf die komplizierte Geschichte der Herausbildung dieses Kanons und die schon früh einsetzenden Versuche zu seiner Erweiterung und Sprengung braucht in diesem Zusammenhang nicht weiter eingegangen zu werden184). § 54 Ziehen wir aus diesem stilisierend und damit vergröbernd nur die Hauptlinien andeutenden Referat zur Geschichte und Bedeutung des Begriffs εγκυκλιος παιδεια das für unseren Zusammenhang wesentliche Fazit, so ist folgendes festzuhalten: Unsere modernen Vorstellungen von „Enzyklopädie" im Sinne von „umfassendem" Wissen bzw. „umfassender" Bildung leiten sich nicht aus der antiken εγκυκλιος παιδεια her. Die εγκυκλιος παιδεια umfasste ursprünglich nur einen Teilbereich der zu lehrenden und zu lernenden Gegenstände. Wir haben gesehen, dass diese Bedeutung auch dem Begriff „encyclopaedia" anhaftet: gemeint sind die artes und scientiae des enkyklischen Kanons. In dem Maße, wie dieser Kanon sich wandelt und immer neue Lehrgegenstände in sich hineinzieht, wird die nachträglich aufgesetzte Deutung von εγκυκλιος παιδεια als „Kreis" von Lehrgegenständen immer beherrschender. In der Neuprägung „encyclopaedia" ist diese Bedeutung „Kreis" von vornherein angelegt. Da man im 16. und 17. Jahrhundert, als das neue Wort sich in Europa verbreitete, vom Altertum vornehmlich durch die Römer und die Kirchenväter Kenntnis hatte, bei diesen aber schon die charakteristische Bedeutungswandlung von „landläufiger, gewöhnlicher (Vor‑)Bildung" zum „Kreis des Wissensinsgesamts" sich vollzogen hatte, bot sich die Möglichkeit an, „encyclopaedia" auf dem Umweg über „orbis doctrinarum" auch direkt auf εγκυκλιος παιδεια zu beziehen. Nur so ist verständlich, weshalb man κυκλος, dessen sich, wie wir gesehen haben, ja schon die nachklassischen Autoren selbst bedient hatten, um der εγκυκλιος παιδεια einen im Sinne der gewandelten Vorstellungen angemessenen Bedeutungsgehalt unterlegen zu können, in εγκυκλοπαιδεια mithörte, so dass kein Zwang bestand, die an sich etymologisch zweifellos korrektere Prägung „cyclopaedia" (κυκλοπαιδεια) beizubehalten. Welche Gehalte die „encyclopaedia" ‑ zunächst ein Insgesamt von innerlich verknüpften Lehrgegenständen, später ein Buch, das diese darbot - umfasste, blieb lange Zeit hindurch bestimmt durch das im Kanon der enkyklischen Fächer Tradierte; nachdem dieser Kanon nicht länger als ein zusammengehöriges Insgesamt aufgefasst werden konnte, blieb immer noch die Vorstellung des „kreisartigen" Verknüpftseins der von der „encyclopaedia" umfassten Gehalte. 157 Das folgende Referat stützt sich auf: Friedmar Kühnert, Allgemeinbildung und Fachbildung in der Antike. [Habil.‑Schrift Jena 1957.] (Deutsche Akad. d. Wiss. zu Berlin. Schriften d. Sektion f. Altertumswiss. 30). Bln: Akad.‑Vlg. 1961, X. 158 S. ‑ Eduard Norden, Die antike Kunstprosa vom VI. Jahrhundert v. Chr. bis in die Zeit der Renaissance. z. Abdr. Lpz./Bln: Teubner, 1909, 2 Bde. XX, 17, 968, 18 S.; zum folgenden besonders II, 670‑679. ‑ Marrou (Anm. 25) S. 211 bis 235. ‑ Friedrich Fuchs, Die höheren Schulen von Konstantinopel im Mittelalter. (Byzantinisches Archiv, Heft 8), Lpz. Bln: Teubner, 1926, S. 41‑50. ‑ Hermann Koller, εγκυκλιος παιδεια. In: Glotta. Zs. f. griech. u. lat. Sprache, Göttingen, 34. Bd. 1955, S. 174‑189. ‑ Wesentlich auch die kurzen Hinweise von F. H. Colson (M. Fabii Quintiliani Inst. Orat. liber 1 ed. with introd. and commentary. Cambridge: Univ. Pr. 1924, S. 121‑122) und John Burnet (The Ethics of Aristotle. Ed. with an introd. and notes. London: Methuen, 1900, S. 22: Kommentar zu 1096 a). ‑ Nicht zugänglich waren: Fritz Mielentz, Beiträge zur Geschichte der artes liberales im Altertum. Diss. phil. Königsberg 1923. (Maschinenschrift), 48 S. (Auszug in: Jb. d. Philos. Fak. Königsberg i. P. 1923, S. 40.) ‑ H. Stamer, Die εγκυκλιος παιδεια im Urteil der griechischen Philosophenschulen. Schulprogramm Kaiserslautern 1912. ‑ Vgl. im übrigen Anm. 3. 158 Werner Jaeger, Paideia. Die Formung des griechischen Menschen. 1. Bd. 3. Aufl. Bln: de Gruyter, 1954, S. 364. ‑ Die Belegstelle: Aesch, Sept. 18. 159) Stellennachweise nach Liddell/Scott in der Reihenfolge unseres Textes: Ad 1: E. IT 429; Aeschin, 1.10; Arist. Cael. 286a11; Arist. Cael. 293a11; Arist. Cael. 296a35. ‑ Ad 2: D. 20.21; D. 25.74. ‑ Ad 3: Arist. Pol. 1263a21. 160) Arist. Pol. I, 7 (1235b25) ed. Otto Immisch S. 12,25. ‑ Übers. bei Fuchs (Anm. 157) S. 41 f. 161) Arist. Cael. 279a30. ‑ Arist. Eth. Nie. 1096a3. ‑ Vgl. dazu Burnet (Anm. 157) S. 22. 162) Zit. bei Fuchs (Anm. 157) S. 42. 163) Kühnert (Anm. 157) S. 6. 164) De comp. verb. 25 ed. Usener et Radermacher II, 1 S. 131. 165) Wyttenbach II, 1135 d ed. Bernardakis VI S. 499. ‑ Vgl. Anm. 22. 166) Kühnert (Anm. 157) S. 14. 167) Ebd. 168) Koller (Anm. 157) passim. Nebenbei sei notiert, dass Kollers Feststellung, „die Renaissance . . . [habe] im Bewusstsein ihrer Verwandtschaft mit Vitruv im späteren 16. Jahrhundert ihre Summe menschlichen Wissens Enzyklopaedie genannt" (S. 188), in dieser Form nicht zutrifft. Im 16. Jahrhundert stehen noch zahlreiche Lehrgegenstände ‑ u. a. die Inhalte der tres superiores facultates außerhalb der „encyclopaedia". 169) Norden (Anm. 157) S. 670‑672. ‑ Fuchs (Anm. 157) S. 41. 170) Bei Diog. Laert. II, 79. ‑ Bei Stobaios 111, 246,1 lautet die Stelle: ......... . ‑ Eine ganz ähnliche Vorstellung findet sich bei Philon De Congr. 9 als Allegorie zu Genesis XVI, 1‑6: Abram (= die menschliche Seele) hat zunächst keinen Zugang zu Sarah (= der Philosophie) und verbindet sich deshalb erst mit der Dienerin Hagar (= den εγκυκλια). Die Verbindung ist nicht fruchtlos; aber als dann Sarah Abraham einen Sohn gebären kann, muss die Dienerin mitsamt ihrem Kind Ismael vertrieben werden. ‑ Vgl. dazu die ausführliche Erläuterung in der Ausgabe von F. H. Colson und G. H. Whitaker (The Loeb Classical Library), Bd. IV (Repr. 1958), S. 451‑457. ‑ Vgl. auch Colson (Anm. 157) S. 121‑122. ‑ Norden (Anm. 157) S. 673‑674. 171) Henri Irene Marrou, Geschichte der Erziehung im klassischen Altertum. Hrsg. v. Richard Harder, Freiburg/München: Alber, 1957. (Hist. de 1'education dans 1'antiquite. 3. Aufl. Paris: du Seuil. 1955), S. 561 als Kommentar zu S. 260 f. 1'72) Diog. Laert. IV, 10. 173) ……. .9 (De congr.) ed Cohn/Wendland III, 74,4. ‑Norden (Anm. 157) S. 673. ‑ Fuchs (Anm. 157) S. 42. 174) Norden (Anm. 157) S. 674‑679. 175) Vgl. Anm. 122. 176) Fuchs (Anm. 157) S. 21. 177) Migne PG 36, S. 914 e. 178) Joannis Zonarae Lexicon ed. Joh. Tittmann. Lpz. 1808, I, S. 600. ‑ Daneben findet sich die Glosse: Περι της προς τα προπαιδεύματα συνόδου. 179) Migne PG 36, S. 914 c. 180) Vgl. Anm. 178. 181) Kühnert (Anm. 157) S. 5. 182) Wichtig für die frühe Verbreitung des Wortes ist der in der Literatur mehrfach erwähnte Beleg aus einer nordafrikanischen Chronik auf das Jahr 468: „Exstant quae encyclia Graeco eloquio vocitantur". Victoris Episcopi Tonnennensis Chronica. Ad annum 468. In: Mon. Germ. Hist. Auct. antiqu. tom. XI. Chron. min. saec. IV.V.VI.VII. ed. Theodorus Mommsen. Vol. II, Bln 1894, 188,3). 183) Vitr. De Architectura 1, 1, 12. ‑ Ed. Silvio Ferri 1960, S. 40. ‑ Die zweite Vitruv‑Stelle: Ebd. 6, praef. 4. ‑ Vgl. Anm. 22. 184) Vgl. Anm. 3. Das Ideal der ΕΓΚΥΚΛΙΟΣ ΠΑΙΔΕΙΑ Auszug aus: Henri-Irénée Marrou, Geschichte der Erziehung im klassischen Altertum, hg. V. R. Harder, München 1957, S. 260f. Zum mindesten was die Theorie betrifft, ist der Grundsatz nie in Frage gestellt worden. Die mathe­ matischen Wissenschaften haben in gleicher Weise wie die literarischen Lehrzweige in dem idealen Programm der „allgemeinen Bildung" der hellenistischen Griechen, der εγκυκλιος παιδεια, immer ihren Platz eingenommen. Man findet in der Tat bei den Schriftstellern der hellenistischen und römischen Zeit zahlreiche Hinweise auf diesen Terminus, den man nicht wörtlich mit „Enzyklopädie" wiedergeben darf, einem ganz modernen Begriff ‑das Wort tritt erst im 16. Jahrhundert auf ‑, der in keiner Weise dem antiken Ausdruck entspricht. „Enzyklopädie" erweckt in uns die Vorstellung eines allumfassenden Wissens. Die εγκυκλιος παιδεια, so schwankend ihre Grenzen auch sein mochten, hat nie den Anspruch erhoben, die Gesamtheit des menschlichen Wissens zu umfassen. Tatsächlich bedeutet εγκυκλιος παιδεια , dem Sinn entsprechend, den im hellenistischen Griechisch gewöhnlich εγκυκλιος hat, ganz einfach „gewöhnliche, landläufige, gemeinsam erhaltene Erziehung". Daher die von mir vorgeschlagene Übersetzung „allgemeine Bildung". Es sollte immer ein Begriff mit ziemlich verschwommenen Umrissen bleiben. Die Anwendung, die er erfährt, schwankt zwi schen zwei Auffassungen. Bald bezeichnet er die allgemeine Bildung, die der anständige Mensch zu besitzen hat, ohne ausdrücklichen Bezug auf den Unterricht, womit der Anteil der gesamten Erziehung, der höheren wie der Hochschulstufe, der schulmäßigen wie der persönlichen zusammengefasst wird; dann wieder die grundlegende Bildung, die Propädeutik, die προπαιδευματα (Philo Congr. erud. 9; Orig. Greg. 1), die den Geist darauf vorbereiten sollen, die höheren Formen des Unterrichtes und der Bildung zu empfangen, mit einem Wort, das Idealprogramm des höheren Unterrichts. Diese Auffassung ist insbesondere die der Philosophen, sei es dass sie die Nutzlosigkeit der εγκυκλιος παιδεια in bezug auf die philosophische Bildung verkünden, wie Epikur (Diog. L. X 6) und mit ihm die Kyniker (ebd: VI 103) und Skeptiker (Sext. Emp. Math. 17) aller Schattierungen, sei es dass sie auf ihrer Notwendigkeit bestehen, wie übereinstimmend die meisten Schulen (Diog. L. 1179; IV 10; V 86‑88; IV 29‑33 . . .), und besonders, seit Chrysippos (Diog. L. VII 129; vgl. Quint. 110, 15), die Stoiker (Sen. Ep. 88, 20). Infolgedessen bleibt die Abgrenzung des Begriffs unbestimmt. Im vollkommenen Sinn des Wortes „Bildung" verstanden, hat εγκυκλιος παιδεια die Tendenz, nicht nur die Philosophie selbst in sich aufzunehmen, sondern auch verschiedene andere Künste, deren Zahl je nach den Schriftstellern wechselt: Medizin, Baukunst, Rechtswissenschaft, Zeichnen, Kriegskunst. Aber das Wesentliche des Programms, das, worauf sich die Philosophen beschränken, bleibt immer durch die sieben freien Künste bestimmt, die das Mittelalter von der Schulüberlieferung der Spätantike erben sollte; ihre Reihe, gegen Ende des 1. Jahrhunderts vor Christus, zwischen Dionysios Thrax und Varro, endgültig festgelegt, umfasst, wie man weiß, neben den drei literarischen Künsten, dem Trivium der Karolinger, Grammatik, Rhetorik und Dialektik, die vier mathematischen Wissenschaftszweige des Quadriviums: Geometrie, Arithmetik, Astronomie und Musiktheorie. Diese Einteilung gehörte seit Archytas von Tarent (Archyt. Fr. 1), wenn nicht sogar seit Pythagoras, zur festen Überlieferung. Wir können uns auf Grund der reichlichen Zahl von Handbüchern, welche die hellenistische Zeit uns hinterlassen hat, eine genaue Vorstellung davon machen, wie ein junger griechischer Student in jede dieser Wissenschaften eingeführt wurde. Obwohl von Archimedes bis Pappos und Diophant die hellenistischen und römischen Zeiten noch große Fortschritte in der griechischen Wissenschaft erlebt haben, ist der beherrschende Zug dieser Periode ein Bemühen um Abrundung, um das Ausreifen der von den Generationen seit Thales und Pythagoras gewonnenen Ergebnisse. Damals erreicht die griechische Wissenschaft jene vollendete Form, die sie nie mehr übertreffen sollte. enkyklios paideia „Kreisbildung“, zum Kreis des Chores und Tanzes gehörig, achoreutos apaideutos (ungebildet ist, wer nicht am Chor teilhat) (altgriechische musische Bildung, Kalokagathia) alltägliche, gewöhnliche, runde, abgerundete, allgemeine Bildung sein und wissen, was Bildung ausmacht; Zustand der Gebildetheit (bis zum 5. Jhdt.) wissenschaftliches, praktisches Allgemeinwissen, von allen Fächern der freien Künste etwas (Sophisten) propädeutisches Grundwissen vor dem Aufstieg zur Philosophie (Platon) was „humanitas“ ausmacht: Grundkenntnisse, freie Wissenschaften, Philosophie/Lebensweisheit (Cicero, Protrepticos, 45 v. Chr.) die umfassende Kunde aller Wissenschaften: encyclios doctrinarum omnium disciplina (Vitruvius um 25 v. Chr.) – „encyclios disciplina uti corpus unum ex his membris est composita“ (Dolch 63) der Kreis des Wissens: „orbis ille doctrinae, quem Graeci enkyklion paideian vocant“ (Quintilian, 35 - 95) die sieben freien Künste: Trivium und Quadrivium disciplinae, die Fächer des gesamten Wissens (gesamtes Mittelalter) Enzyklopädie (ab 16. Jhdt.) Dieses Buch war gefährlich Auszug aus: Robert Darnton, Glänzende Geschäfte. Die Verbreitung von Diderots Encyclopédie oder: Wie verkauft man Wissen mit Gewinn? Berlin 1993 (1979 Harvard University Press: The Business of Enlightenment. A publishing History of the Encyclopédie 1775 ‑1800) Bevor wir versuchen, die späteren Wanderungen des Textes zu verfolgen, müssen wir eine grundlegende Tatsache in Rechnung stellen, die für die französischen Behörden offenkundig wurde, sobald der erste Band der ersten Auflage die Subskribenten erreichte: Dieses Buch war gefährlich. Es lieferte nicht lediglich Wissen über Alles von A bis Z; es zeichnete die Kenntnisse nach philosophischen Prinzipien auf, die d'Alembert in der »Einleitenden Abhandlung« dargelegt hatte. Obwohl er formell die Autorität der Kirche anerkannte, machte d'Alembert deutlich, dass Erkenntnis durch die Sinne gewonnen wird und nicht aus Rom oder der Offenbarung. Der große strukturierende Faktor war die Vernunft, die gemeinsam mit der Erinnerung und der Einbildungskraft als ihren Schwesterfähigkeiten die Sinnesdaten in Zusammenhang brachte. So stammte alles, was der Mensch wusste, aus der Welt, die ihn umgibt und aus den Tätigkeiten seines eigenen Geistes. Die Enzyklopädie veranschaulichte das graphisch mit einem Kupferstich vom Baum der Erkenntnis, bei dem alle Künste und Wissenschaften aus den drei geistigen Fähigkeiten hervorsprießen. Die Philosophie bildet den Stamm des Baumes, während die Theologie ein entfernter Ast in der Nähe der schwarzen Magie ist. Diderot und d'Alembert hatten die alte Königin der Wissenschaften entthront. Sie hatten die erkennbare Welt neu geordnet und den Menschen darin neu orientiert, während sie Gott hinausdrängten. (S. 18) Sie wussten, dass es ein gefährliches Geschäft ist, sich in Weltansichten einzumischen, und so versteckten sie das hinter Ausflüchten, Ironie und falschen Beteuerungen der Rechtgläubigkeit. Aber sie verbargen nicht die erkenntnistheoretische Grundlage ihres Angriffs auf die alte Kosmologie. Die »Einleitende Abhandlung« zeigt sie ausdrücklich in einer kurzen Geschichte der Philosophie, die die geistige Herkunft der Philosophen bestimmte und den orthodoxen Thomismus auf der einen Seite und den neo‑orthodoxen Cartesianismus auf der anderen Seite niedermachte und nur Locke und Newton stehen ließ. So präsentierten Diderot und d'Alembert ihr Werk zugleich als Kompilation des Wissens und als Manifest der Philosophie. Es war ihre Absicht, beide Aspekte des Buches zu verbinden und sie als zwei Seiten derselben Münze erscheinen zu lassen: Enzyklopädismus. Diese Strategie diente als ein Weg zur Legitimierung der Aufklärung, denn die Enzyklopädisten identifizierten ihre Philosophie mit dem Wissen selbst ‑ d. h. mit gültigem Wissen von der Art, wie es die Sinne und die geistigen Fähigkeiten liefern, im Gegensatz zu dem, das Kirche und Staat verbreiten. Das überlieferte Lernen, sagten sie damit, führt zu nichts als Vorurteil und Aberglauben. Unter der Masse der achtundzwanzig Foliobände der Enzyklopädie mit ihren 71.818 Artikeln und 2885 Tafeln liegt ein erkenntnistheoretischer Richtungswechsel, der die Topographie allen menschlichen Wissens verwandelte. (S. 19) Betr.: Encyclopédie Tenorth („Alle alles zu lehren“. Möglichkeiten und Perspektiven allgemeiner Bildung, Darmstadt 1994): Die >Encyclopédie ou dictionnaire raisonné des siences [sic!], des arts et de [sic!] metiers<[sic!] erschien von 1751 bis 1772, sie umfasste in der Oktav-Ausgabe insgesamt 18 Bände, davon 11 Bände von Tafeln zu allen Handwerken und mechanischen Künsten. S. 25 Hist.-krit. Wörterbuch des Marxismus: (hrsg. v. Wolfgang F. Haug, Band 3, Berlin, Hamburg 1997): Encyclopédie ou dictionnaire raisonné des arts et métiers [sic!], Paris 1751 - 1772 Encyclopédie ou dictionnaire raisonné des sciences, des arts et métiers [sic!], Paris 1751 - 1780 Bd. 3, Sp. 619 „Die letzten zehn alphabetischen Bände erscheinen vor 1766, elf Tafelbände zwischen 1762 und 1772.“ Sp. 607 G. Berger, Hrsg., J. L. d'Alembert, D. Diderot u. a., Enzyklopädie. Eine Auswahl, Frankfurt am Main 1989, S. 12 f. Oktober 1750: Prospekt Juni 1751 1. Band (mit der Einleitung von d'Alembert, vgl. J. L. d'Alembert, Einleitung zur Enzyklopädie, hrsg. u. eingel. v. E. Köhler, frz.-dtsch, Hamburg 21975 (1955) Januar 1752 2. Band (Krise: kgl. Verbot) Oktober 1753 3. Band 1754 4. Band 1755 5. Band darin: Encyclopédie 1756 6. Band November 1757 7. Band 1758/59 schwere Krise: Verbot des Drucks, Entzug des kgl. Privilegs Fortsetzung durch Malesherbes ermöglicht 1764: der Verleger Le Breton greift eigenmächtig zensierend in die Artikel ein (Brief Diderots an Le Breton) 1765 Ankündigung des 8. Bandes (vgl. in: Diderot, Ein Lesebuch, hrsg. v. Rolf Geißler, Berlin, Weimar 1989, S. 16 - 19) Dezember 1765: die restlichen zehn Bände (Band 8 bis Band 17 erscheinen) 1762 - 1772 11 Bände Kupferstiche 1776 - 1777 5 Supplementbände 1780 2 Indexbände 17 + 11 + 5 + 2 = 35 (Bergers Arbeit beruht u. a. auf: Robert Darnton, Glänzende Geschäfte. Die Verbreitung von Diderots Encyclopédie oder: Wie verkauft man Wissen mit Gewinn? Berlin 1993 (1979 Harvard University Press: The Business of Enlightenment. A publishing History of the Encyclopédie 1775 - 1800) Enzyklopädie und Enzyklopädismus Zitate aus: U. Dierse, Enzyklopädie. Zur Geschichte eines philosophischen und wissenschaftstheoretischen Begriffs, Bonn 1977 (= Archiv für Begriffsgeschichte, Supplementheft 2) „'Enzyklopädismus' – mit pejorativem Unterton – bedeutet Anhäufung von gelehrtem Material, Zusammentragen aller erreichbaren Erkenntnisse und eines möglichst vollständigen Wissensstoffes. 'Enzyklopädie' selbst ist von nun an auch, dafür sorgten die zahlreichen Nachahmungen, Umarbeitungen, Auswahlausgaben etc. des französischen Originals in vielen Ländern und Sprachen, ein Terminus für ein alphabetisch angeordnetes Lexikon oder Wörterbuch. Dieses Bild entspricht jedoch keineswegs dem Verständnis des Begriffs, wie es sich in der 'Encyclopédie' selbst, besonders in d'Alemberts 'Discours préliminaire' zeigt.“ S. 52 „Eine Enzyklopädie ist also von einem Wörterbuch unterschieden. Erstere spaltet nicht die Erkenntnisse nach der Ordnung des Alphabets auf, sondern sucht deren Zusammenhang nach ihren >Regeln oder Grundbegriffen (règles ou de notions générales)<, so dass sie in einem >einheitlichen System<, in einem >Stammbaum (généalogie) erfasst werden.“ S. 53 „Die Tafel der Wissenschaften zeigt, dass 'Enzyklopädie' von d'Alembert als System und Zuordnung aller Erkenntnisse verstanden wird, nicht als lexikalische Aneinanderreihung von einzelnen, in sich selbständigen Artikeln. Wie verträgt sich das aber mit der alphabetischen Anordnung, nach der die 'Encyclopédie' schließlich doch angeordnet wurde? D'Alembert gibt darüber genaue Rechenschaft: die Entscheidung für die Orientierung am Alphabet fiel allein aus Gründen des handlicheren Gebrauchs des Werkes: >Es schien uns bequemer und einfacher für unsere Leser zu sein, die das Wort, über das sie sich zu unterrichten wünschen, leichter in einem alphabetisch angelegten Wörterbuch als in irgendeinem anderen finden können<.“ S. 56f. „Die meisten der in der Nachfolge der 'Encyclopédie' stehenden Lexika bewahren jedoch nur wenig von deren ursprünglich enzyklopädischen Anlage, ebenso jene Publikationen, die den Stoff nach großen Sachgebieten anordnen, dabei aber keinerlei Zusammenhalt der einzelnen Disziplinen, wie er in der 'Encyclopédie' selbst noch in der alphabetischen Reihenfolge sichtbar gewesen war, erkennen lassen106“. S. 60f. Enzyklopädische Bildung Auszug aus: J. Henningsen, Enzyklopädie. Zur Sprach‑ und Bedeutungsgeschichte eines pädagogischen Begriffes. In: Archiv für Begriffsgeschichte, Bd. 10, Bonn 1966, S271-357, Zitat S. 328-331 § 82 Die „Enzyklopädie“, sofern sie nicht als „Buchmaschine“ (Ortega y Gasset) lediglich inventarisieren will, ist ein Spezialfall des Lehrbuchs. Wenn ein Buch „lehrt“, muss solches Lehren pädagogischer Betrachtung zugänglich sein. § 83 Schwieriger ist die bildungstheoretische Frage nach dem „enzyklopädischen“ Verknüpftsein von Inhalten. Der Begriff „enzyklopädische Bildung“ ist in pädagogischen Erörterungen seit langem suspekt, und er bleibt unfruchtbar, solange man dabei im Sinne des Wortes „Zwar weiß ich viel, doch möcht' ich alles wissen“ (Faust 601) an die Summe alles Wissbaren denkt. Die Frage ist also zunächst einmal zu differenzieren. Im Hinblick auf das lernende Subjekt ist es nicht sinnlos zu fragen, ob nicht ein zwar begrenzter, aber umgreifender Bestand an „allgemeinem“ Wissen grundlegend sein muss, gewissermaßen als ein die intersubjektive Gemeinsamkeit der Kultur erst ermöglichendes, dem speziellen Berufswissen vorausgehendes, es aber auch abschließendes Fundament. Wird dies „Enzyklopädie“ genannt, wäre dies eine normative Verwendung des Begriffs; es wäre dann zu fragen, welche Inhalte diese fundamentierende Funktion zu übernehmen imstande sind, wobei deutlich ist, dass jede mögliche Antwort historisch ist und der Auslegung auf den Konsensus der verantwortlich Tätigen hin bedarf. Die Lehrpläne der sogenannten „allgemeinbildenden“ Schulen machen implizit Aussagen über diese „Enzyklopädie“; die Sache taucht aber auch an anderen Stellen auf, z. B. in der Diskussion um das „Great Books Program“ und um das „Studium Generale". So gesehen, ist das Problem alt; es erschien in der Geschichte des Begriffs „encyclopaedia“ wiederholt in der These, man könne zwar nicht alles wissen, solle sich aber die „principia“ aller Wissensbereiche aneignen („velut ex compendio“), ehe man sich dann einer speziellen „professio" zuwende. Der Begriff „Enzyklopädie“ könnte jedoch ‑ immer noch im Hinblick auf das lernende Subjekt ‑ auch mehr formal verstanden werden, wobei jetzt an den Sinn gedacht ist, den Comenius der Sache gab. „Enzyklopädische“ Bildung würde dann besagen, dass auf jeder Stufe des Lernens der Zusammenhang wichtiger ist als einzelnes, dass eine Verknüpfung zu einem „omnia“ = παν immer wieder hergestellt werden muss (normativer Aspekt) bzw. sich herstellt (deskriptiver Aspekt). Hinzulernen ist nicht Addition, sondern Umstrukturierung. Insofern ist es sinnvoll zu sagen, dass ein Kind „enzyklopädisch" gebildet ist, dass der Unterricht diese „Enzyklopädie“ zwar erweitert und sprengt, sie aber auf höherer Stufe immer wieder zur „Enzyklopädie“ verknüpfen, integrieren muss. Die grüßten Schwierigkeiten, so scheint uns, wirft der Begriff „Enzyklopädie“ auf, wenn er ‑ auch dieser Aspekt ist in der Geschichte mehrfach artikuliert worden ‑ auf die Objektseite, auf das Wissen selbst bezogen wird. Waren es bei Wendungen wie „orbis disciplinarum“ und „orbis doctrinae“ noch Lehrzweck und Lehrgang, die verschiedene Bereiche zu einem „Kreis" zusammenfügten, so ist es bei Wendungen wie „quasi orbiculata disciplinarum series“, „encyclopaediae gyrus“, „circularis doctrina“, „circularis eruditio“, la suite et liaison de tous les arts et sciences“ die Vorstellung einer „inneren“ Zusammengehörigkeit des unter „encyclopaedia“ begriffenen Wissensinsgesamts. In dieser Vorstellung liegt eine kaum eliminierbare grundsätzliche Schwierigkeit, setzt sie doch voraus, verschiedene Bereiche des Wissens als wesentlich gleichrangig und gewissermaßen „auf einer Ebene liegend“ anzusehen, was offensichtlich nur möglich ist, wenn hochgradig abstrahiert und alles Wissen unter dem Gesichtspunkt ,.Information“ gefasst wird. Solche Abstraktion bringt aber das Problem der Disparatheit verschiedener sich wechselseitig in Frage stellender Inhalte zum Verschwinden: Harmonisierung dieses disharmonischen Insgesamts zu einem „Kreis“ ist nur möglich auf Kosten der widerspruchsträchtigen Mächtigkeit einzelner Bereiche und Aussagen: Christus und Buddha ‑‑ um ein Beispiel Otto Friedrich Bollnows aufzugreifen" ‑ passen nur dann zusammen, wenn die eine oder die andere oder beide dieser Potenzen denaturiert werden und statt eines Wissens ein „Wissen über ein Wissen" geboten wird. Dies Problem ist übrigens mit der „Enzyklopädie“, sei diese nun ein Buch oder ein Wissensinsgesamt, grundsätzlich auch dann gegeben, wenn solche Widersprüchlichkeit nicht schon objektiv in den miteinander konkurrierenden Inhalten steckte; ein Wissensbereich wie z. B. „die" Literatur erfährt eine Verwandlung, wenn er „enzyklopädisch“ dargeboten bzw. zur „Enzyklopädie“ integriert wird, d. h. wenn Literatur vertreten wird durch ein Wissen über Literatur. Nun wird aber dies Problem ständig praktisch bewältigt im Lehren, Lernen und Lesen, im Hören und Darübersprechen. Eine Integration verschiedener Inhalte wird bewirkt und stellt sich fortwährend her, auch wenn diese selbst in diesem Prozess nur in einem defizienten Modus anwesend sind, sozusagen durch Stellvertretung. Vehikel dieser Integration ist offenbar das „Gespräch“ in weitestem Sinne, ist die Sprache mit ihren Möglichkeiten, eines durch anderes zu sagen. In theoretischer Hinsicht drängt sich deshalb angesichts des Problems „Enzyklopädie“ der Begriff „Übersetzung“ auf: Enzyklopädie ist Integration durch Übersetzung. Dass durch Übersetzung Inhalte modifiziert werden, ist deutlich; solche Modifikation ist aber Umstrukturierungen grundsätzlich offen: der Prozess des Hinzulernens, verstanden als ständige Integration, ist unabgeschlossen.