Schwarzweissportrait von Josef Fellsches, Halbprofil, im schwarzen Rollkragenhemd, die Hände verschränkt. Analytischer, etwas herausfordernder Blick. Foto: Sibylle Ostermann

Josef Fellsches - Modernität der Ehre? Anerkennung und Würde!

Beitrag zur Tagung der Evangelischen Akademie Loccum „Wie viel Ehre braucht der Mensch?“ vom 3. – 5. Mai 2002

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Einleitende Gedankensprünge

Die Titelfrage dieser Tagung erinnerte mich an Leo Tolstoi – und damit möglicherweise an die Quelle dieser rhetorischen Formel -, an seine Erzählung „Wieviel Erde braucht der Mensch?“. Darin läuft ein Bauer nach Landbesitz, er läuft um sein Leben; alles, was er bis Sonnenuntergang umschritten hat, gehört danach ihm. Er hetzt sich ab, möglichst viel Land zu umlaufen, schafft es sogar, als die Sonne soeben versinkt, am Ausgangspunkt wieder anzukommen, bricht dort aber tot zusammen. Ihm wird an Ort und Stelle ein enges Grab geschaufelt. Soviel Erde braucht der Mensch. Ist das auch eine Antwort auf die Frage, wie viel Ehre der Mensch braucht? Mir fiel die antike Auffassung von der größten Schmach und Schande ein: einem Verstorbenen oder Getöteten die letzte Ehre der Bestattung zu verweigern. Und schließlich landeten meine Gedanken bei den Neandertalern, die als erste ihre Verstorbenen bestattet haben. Damit wollten sie ihren Toten sicherlich nicht eine letzte Ehre erweisen. Vielmehr müssen diese Menschen bereits zu einem Bewusstsein gelangt sein, das die Menschengattung von anderen Lebewesen unterscheidet. Auf diese Unterscheidung kommt es mir an. Ich interpretiere sie so, dass hier den Gestorbenen nicht eine letzte Ehre erwiesen wird, sondern dass sich diese Menschen der Einzigartigkeit ihrer Gattung bewusst geworden sind1. Damit bezeugen sie bereits eine Ahnung von dem, was viel später auf den Begriff Menschenwürde gebracht wird. Ich möchte die Auffassung vertreten, dass es für uns Heutige nicht darauf ankommt, die Ehre zu rehabilitieren oder ein neues Ehrkonzept zu entwickeln. Worauf es ankommt, heißt Menschenwürde.
Und ich möchte mich gegen die Beliebigkeit aussprechen, das eine könne doch so gut wie das andere gelten. Ich möchte darstellen, dass Ehre durch den Begriff Menschenwürde überholt und in ihm aufgehoben ist.

Ich fasse mein Plädoyer zunächst in vier Thesen.

Es ging um Gut und Ehre

Wer jetzig Zeiten leben will,
muss hab’n ein tapfres Herze.
Es sind der argen Feind soviel,
bereiten ihm groß’ Schmerze.
Da heißt es stehn ganz unverzagt in seiner blanken Wehre,
dass sich der Feind nicht an uns wagt:
es geht um Gut und Ehre.

Geld nur regiert die ganze Welt,
dazu verhilft Betrügen.
Wer sich sonst noch so redlich hält,
muss doch bald unterliegen.
Rechtschaffen hin, rechtschaffen her,
das sind nur alte Geigen;
Betrug, Gewalt und List vielmehr,
klag du, man wird dir’s zeigen.

Doch wie’s auch kommt, das arge Spiel,
behalt ein tapfres Herze;
und sind der Feind’ auch noch so viel,
verzage nicht im Schmerze.
Steh gottgetreulich, unverzagt
in deiner blanken Wehre.
Wenn sich der Feind auch an uns wagt,
es geht um Gut und Ehre!2

Dieses Lied klingt in vielen Versen wie auf unsere Zeit gesungen, es stammt aber aus dem Dreißigjährigen Krieg. Mit diesem Lied haben sich die Söldner aller Heere, Freund und Feind, ermutigt, getröstet, Kampf- und Lebenssinn geäußert.
Es ging um Gut und Ehre.

Wenn ich für heute frage, worauf es ankommt, und antwortete, es gehe um Gut und Ehre, spürte ich wohl nicht allein die Unzeitgemäßheit. Mit dieser Redewendung fassten die Menschen damals das zusammen, was ihnen das Teuerste war, Gut und Ehre. Was ihnen zum Gut gehörte, über diese Habseligkeiten brauchen wir nicht lange nachzudenken. Bemerkenswert finde ich, dass Ehre vom Gut abgesetzt wird. Es scheint doch etwas zu meinen, das nicht unter Güter fällt, also auch nicht in öffentlichen Ehrungen aufgeht, vielleicht gar nichts mit ihnen zu tun hat. Dieser Spur möchte ich folgen. Als ihr erstes Auftauchen sah ich eingangs die Bestattung.
Für die Menschen des frühen 17. Jahrhunderts, die das Lied gesungen haben, vermute ich dies: weil sie Ehre vom Gut absetzen, ist ihnen Ehre etwas die Menschen Auszeichnendes, das zwar noch nicht den Namen Menschenwürde trägt, aber das diese meint. Damit befänden sie sich auf der Spur dessen, was schließlich in der Aufklärung beim Namen Würde genannt wird.

Im 19. Jahrhundert allerdings scheint Ehre zu einem Gut unter Gütern geworden zu sein, so dass die Spur kaum noch auszumachen ist. Dazu lohnt es sich, bei Schopenhauer (1788 – 1860) nachzulesen. Er beschreibt und kritisiert die Situation mit scharfem Blick und scharfen Worten. In seinen Aphorismen zur Lebensweisheit3 (1851 in seinen Parerga und Paralipomena: Nebenwerke und Nachträge) teilt er die Güter des menschlichen Lebens in drei Klassen ein: Was einer ist, was einer hat und was einer vorstellt. Das Erste, „was einer an sich selber hat, ist zu seinem Lebensglücke das Wesentlichste“ (S. 12): Persönlichkeit im weitesten Sinne, Gesundheit, Kraft, Schönheit, Temperament, moralischer Charakter, Intelligenz und Ausbildung (S. 3). Das Zweite, was einer hat, ist Eigentum und Besitz in jeglichem Sinne (S. 3). „.... heutzutage so allgemein anerkannt, dass er keiner Empfehlung bedarf“ (S. 13). Frau und Kinder zählt Schopenhauer übrigens nicht zu dem, was einer hat, denn von diesen werde jemand gehabt.
Unter dem Dritten, darunter, was einer vorstellt, werde verstanden, was er in der Vorstellung anderer sei, also eigentlich wie er von ihnen vorgestellt werde. „Es besteht demnach in ihrer Meinung von ihm, und zerfällt in Ehre, Rang und Ruhm“ (S. 3).
Eine mögliche Definition der Ehre als das äußere Gewissen und das Gewissen als die innere Ehre verwirft Schopenhauer, mit der Begründung nämlich, das wäre zwar eine glänzende, aber keine gründliche Erklärung. An die Stelle der verworfenen setzt er die folgende Definition:
„Die Ehre ist, objektiv, die Meinung anderer von unserem Wert, und subjektiv unsere Furcht vor dieser Meinung“ (S. 70). Ich weise auf Schopenhauers Verwendung des Begriffs „Wert“ hin, der hier m. E. soviel wie „Gut“ heißt.
Nun folgt die Einschätzung dieses Wertes seitens Schopenhauer. Die Meinung anderer über uns werde „durchgängig viel zu hoch angeschlagen“, obwohl sie für unser Glück unwesentlich sei (S. 57). „Viel zu viel Wert auf die Meinung anderer zu legen, ist ein allgemein herrschender Irrwahn“ (S. 60). Aber – und nun kommt der deutliche Hinweis auf Ehre als gesellschaftliches Integrationsmittel: Jede „Menschendressierungskunst“ enthalte die Weisung, „das Ehrgefühl rege zu erhalten und zu schärfen“ (S. 61).
Unverzichtbar erscheint Schopenhauer allerdings, was er „die bürgerliche Ehre“ nennt, die sich ohne Unterschied über alle Stände erstrecke und derer kein Mensch entraten könne (S. 73). Sie bestehe „in der Voraussetzung, dass wir die Rechte eines jeden unbedingt achten und daher uns nie ungerechter oder gesetzlich unerlaubter Mittel zu unserem Vorteile bedienen“ (S. 72).
Diese Ehre ist für Schopenhauer also etwas menschlich Allgemeines, aber verdienstlich von Rechtschaffenheit abhängig. Durch Ungerechtigkeit oder durch Gebrauch unerlaubter Mittel zum eigenen Vorteil ginge sie verloren und zwar nicht wiederherstellbar, „es sei denn, dass der Verlust auf Täuschung, wie Verleumdung oder falschen Schein, beruht hätte“ (S. 72). Hiergegen könne man den Rechtsweg beschreiten. Kurzum: Im Verhältnis zum Ruhm habe die Ehre einen negativen Charakter. Ruhm müsse erworben werden, „die Ehre hingegen braucht bloß nicht verloren zu gehn“ (S. 73).

Bemerkenswert finde ich Schopenhauers Betonung, dass diese Ehre vom Subjekt ausgehe, auf seinem Tun und Lassen beruhe, „nicht aber auf dem, was andere tun und was ihm widerfährt“ (S. 73). Ist das meine Spur? Wenn ja, wäre sie arg verwischt. Schopenhauer nähert sich vielmehr dem, was wir Anstand nennen, macht aber letztlich doch die Ehre als das, was jemand vorstellt in den Augen der anderen, doch unabhängig von deren Meinung. Umgekehrt gesagt: Die Bedeutsamkeit der Meinung anderer, ist abhängig von jemandes Verhalten und damit sekundär.
Vehement wendet Schopenhauer sich gegen den schäbigen Rest der ritterlichen Ehre. Dieser Rest sei eine „Afterehre“, die sich allein schon durch irgendeine Äußerung der Geringschätzung verletzt fühle und durch das Universalmittel des Duells wiederhergestellt werden müsse (S. 86). Der verbreitete „Irrwahn“, „die Manie“, die Meinung der anderen zum höchsten Gut zu erheben, erreicht hier also eine Zuspitzung, die die Frage aufwirft, ob mit ihr nicht endgültig das Konzept der Ehre verkommen sei, eine These, die an anderer Stelle vertreten wurde.4

Im Blick auf unsere gesellschaftliche Situation heute möchte ich noch einen Gedanken anfügen. „Ehre wem Ehre gebührt“? Diese Devise enthält die abgrenzende Erwartung, dass Ehre nur wenigen gebührt. Den allermeisten Menschen einer Weltbevölkerung von mehr als 6 Milliarden 137 Millionen Menschen kommt also keine Ehre zu. Das rapide Wachstum der Weltbevölkerung findet übrigens zu 99 Prozent in den Entwicklungsländern statt.
Was anstelle von Ehre kommt denn allen diesen Menschen, jedem einzelnen zu? Die Tatsache, dass die Vereinten Nationen genau zählen und diese Zahl im Weltbevölkerungsbericht veröffentlicht wird, enthält die Spur, nach der hier gefragt ist. Volkszählungen und Registrierung aller Einzelnen sind zwar im Entstehen der Nationalstaaten als Herrschaftsmittel entstanden, sie haben aber auch zu dem Gedanken beigetragen, dass jedem Einzelnen Menschenwürde zukommt. Das Ehrkonzept dagegen enthält Ausgrenzung und fällt hinter die Errungenschaft der Toleranz zurück. Und selbst die Toleranz sollte doch nur eine vorübergehende Gesinnung sein.

Toleranz

Ist das „sollte“ im letzten Satz eine präskriptive Bestimmung oder ist es eine Imperfektform? Es ist beides. Obwohl das Toleranz-Konzept historisch überholt ist, ist Toleranz noch heute für viele eine uneingeholte Haltung: diese sollten – präskriptiv – endlich tolerant sein, bis sie dann zu einer größeren Haltung gelangen. Denn im Selbstanspruch neuzeitlichen aufgeklärten Denkens ist Toleranz bereits überwunden, nämlich zugunsten von Anerkennung. Die Toleranz sollte – Imperfekt – nur eine vorübergehende Gesinnung sein; ihr folgte die Errungenschaft der Anerkennung.
Toleranz war die politische Errungenschaft nach den Religionskriegen. Damals konfrontierten sich die Religionen im Denken, Tun und Kampf deshalb, weil sie das Eigene nur ausschließlich denken konnten, also unter Ausschluss der Berechtigung des anderen Glaubens. In dieser Situation bot die Toleranzidee eine Lösung an. Sie gewährte Religionsfreiheit, allerdings im Sinne von Duldung der als unwahr angesehenen anderen Religionen.
Die Toleranzidee beflügelte Gedanken und Schriften von Denkern und Dichtern, bestimmte die Politik mit, aber noch zugunsten des eigenen Vorteils. Toleranzpolitik war immer Sache des Stärkeren, und sie ist immer noch Ausdruck von Macht. In der Friedensabsicht war das Gewähren von Toleranz Machtausübung. Deshalb nennt die von Jürgen Mittelstraß herausgegebene Enzyklopädie noch im Jahre 1966 drei Bedingungen von Toleranz: 1.) ein Dissens zwischen der tolerierenden und der tolerierten Gruppe bezüglich religiöser, ethischer oder epistemischer Orientierungen, 2.) die Überzeugung der tolerierenden Gruppe von der Unrechtmäßigkeit oder Falschheit der tolerierten Position; 3.) die potentielle Fähigkeit der tolerierenden Partei, Zwangsmittel gegen die andere Gruppe anzuwenden.5 Diese Definition ist das Fazit aus der Politik für Religionsfreiheit.
Philosophen der Aufklärung wandten sich gegen solche Politik und forderten unbegrenzte Religionsfreiheit, einige auch Duldsamkeit gegenüber den Atheisten. Ich erinnere an Lessing, an seine Abhandlung über die Erziehung des Menschengeschlechts und an seine Ringparabel.
Diderot sah in der Toleranz die Intoleranz. Er eröffnete seinen Artikel „Intoleranz“ in der Encyclopédie mit der Definition: „Unter dem Wort Intoleranz versteht man im allgemeinen jene wilde Leidenschaft, die dazu führt, alle im Irrtum befangenen Menschen zu hassen und zu verfolgen.“ Man müsse dabei zwei Arten von Intoleranz unterscheiden: die kirchliche und die staatliche.
„Die kirchliche Intoleranz besteht darin, jede andere Religion als die, zu der man sich bekennt, für unwahr zu halten und dies überall auszuposaunen, ohne sich von irgendeiner Befürchtung, irgendeiner menschlichen Rücksichtnahme zurückhalten zu lassen..... . “
„Die staatliche Intoleranz besteht darin, jeden Umgang mit denen abzubrechen, die über Gott und dessen Verehrung anders denken als wir, und sie mit allen möglichen Gewaltmitteln zu verfolgen.... “6.
Im Artikel Toleranz der Encyclopédie unterscheidet sein Autor, der Pfarrer Jean-Edme Romilly aus Genf, „die barmherzige Duldung, wie sie Vernunft und Menschlichkeit zugunsten der Irrgläubigen verlangen, von jener verwerflichen Gleichgültigkeit..., die ... alle Anschauungen der Menschen unter demselben Aspekt sehen lässt“. „Wir predigen indes die praktische Toleranz, nicht aber die spekulative; und man begreift wohl, welcher Unterschied zwischen der Duldung einer Religion und ihrer Billigung besteht“.7
Die Päpste verurteilten feierlich diesen Tolerantismus. Der aufgeklärte Absolutismus endlich hielt es für vernünftiger, zugunsten seiner Staatsräson Religionsfreiheit zuzugestehen.
So diente die Toleranz der politischen Emanzipation. Für die menschliche Emanzipation allerdings musste - und muss noch - die Toleranz überwunden werden. Auf dem Weg zur menschlichen Emanzipation sollte Toleranz nur eine vorübergehende Gesinnung sein.

Anerkennung

Dass Toleranz nur eine vorübergehende Gesinnung sein sollte, ist der erste Halbsatz eines Wortes von Goethe8. Der zweite Halbsatz lautet: „sie muss zur Anerkennung führen.“ Goethes Wort befindet sich in seinen „Maximen und Reflexionen“, es ist politisch wie individuell anwendbar.
Es hat noch einen dritten Teil, nämlich eine Begründung, die oft nicht mitzitiert wird. Sie lautet: Dulden heißt beleidigen. Damit wird deutlich, dass Goethe Toleranz als Dulden im Sinne eines missbilligenden Gewährens von oben herab versteht; deshalb ist sie Beleidigung. Die Gewährung der Toleranz enthält noch den lauten oder stillen Vorbehalt: eigentlich bist du oder seid ihr auf dem falschen Weg, ihr seid im Irrtum oder ihr seid zurückgeblieben. Anerkennung hat diesen Vorbehalt überwunden.

Anerkennung verzichtet auf die Macht, aus der die Toleranz noch kommt. Dies scheint mir wichtig angesichts eines sehr weiten Begriffs von Toleranz, wie er sich im heutigen Sprachgebrauch zeigt. Toleranz wird oft wie Anerkennung gebraucht. Das macht aber unkenntlich, dass Anerkennung mehr ist als Toleranz. Anerkennung verzichtet nicht nur auf Macht, sie verzichtet auch auf den Anspruch, die eigene Annahme von Wahrheit als die objektive oder einzige zu sehen. Sie behauptet ferner nicht, dass die eine Kultur, die eigene, besser oder höher sei als die andere. Anerkennung schließt auch die Anerkennung des Bildungsstandes oder der Position ein, die jemand erreicht hat, und seine Denkungsart. An-erkennung ist Liebe als Erkenntnisform, denn sie lässt mich den Anderen tiefer erkennen, und in diesem Licht geht auch mir eins über mich auf.
Damit ist Anerkennung des einzelnen eine der höchsten Errungenschaften bürgerlichen Denkens und Selbstanspruchs.

Im Gegensatz zu Anerkennung haben Ehrkonzept und Ehrkodices immer abgrenzenden und ausgrenzenden Charakter. Sie können zwar in der Ingroup gewaltbegrenzend sein, gegenüber den Outgroups aber sind sie gewaltfördernd. Die Vorstellung von der eigenen und Gruppenehre tendiert zur Intoleranz. „Wegen der Notwendigkeit, Ehre zu verteidigen und immer wieder öffentlich herzustellen, ist sie vorrangig ein Konzept, das sich in Konkurrenz und Streit materialisiert, Gewalt gehört als Option immer dazu. Ehre ist eher gewaltfördernd als gewaltlimitierend“ (Martin Dinges9). Gisela Notz machte darauf aufmerksam, dass Ehre immer noch patriarchalisch ist. Die Formel „Ehre der Frauen“ enthalte bis heute den Klang von Jungfräulichkeit, Keuschheit und Treue zu einem Mann.10
Dass die Ehre auch in unserer Gesellschaft noch ein Gut ist wie Geld und andere Güter, auch ein Rechtsgut, das ist der Fall, wurde aber oben von mir als eine Unzeitgemäßheit bezeichnet. Ungleichzeitigkeiten gehören zum Prozess geschichtlichen Wandels. Das Ehrkonzept aber wieder hervorzukehren, von ihm eine hohe Integrationsfunktion oder gar eine Remoralisierung zu erwarten, wie es Ludgera Vogt in Aussicht nimmt11, halte ich für unangebracht. Was unseren gesellschaftlichen Anspruch an uns selbst angeht, haben wir das Ehrkonzept zugunsten der Anerkennung jedes einzelnen überholt.

Aber was genau ist gemeint mit „Anerkennung jedes einzelnen“? Häufig verbinden sich mit Anerkennung jemandes Leistung, seine Verdienste, Anstrengungen, seine Rechtschaffenheit und ähnliches. Wir wissen auch, dass sogar Taten anerkannt werden, die bei anderen als Verbrechen gelten. Diese schwache Bedeutung von Anerkennung kann hier nicht gemeint sein. In Bezug auf dieses schwache Verständnis von Anerkennung tobt ebenso ein Kampf wie um Status, Prestige, Ehre, Rang und Ruhm. Solange Anerkennung gewährt wird oder nicht, solange sie von guten Taten und Leistungen abhängig ist, also verdient werden muss, statt geschenkt zu werden, so lange ist gegenüber Ehre und Toleranz noch keine neue Qualität erreicht. Erst wenn Anerkennung des einzelnen nicht mehr seine Ausstattung, seinen Wert und seine Verdienste meint, sondern den bloßen Menschen, sein Leben, sein Dasein, erst dann hat Anerkennung eine neue Qualitätsstufe erreicht.

Wir wissen, dass alle Menschenkinder auch nach wissenschaftlichem Befund solcher Anerkennung als eines Lebensmittels bedürfen, und auch Erwachsene können sie nicht ganz entbehren: die Anerkennung ihres Menschseins, damit zugleich ihrer Person. Diese Anerkennung kann sich zwar in der Form einer Anerkennung von Leistung äußern, sie ist dann aber nicht vergleichend, sondern sie bezieht sich auf die individuelle Einzigkeit dieses einzelnen Menschen.
Das ist z. B. auch dort der Fall, wo es um Rettung von Menschenleben geht. Wenn der SOS-Ruf als „Save our souls“ gedeutet wird, dann ist das nackte Leben gemeint. Die unsterblichen Seelen können nicht gemeint sein, die würden auch gerettet werden können, wenn die Menschen zu Tode kämen.
Der tiefstliegende Grund für diese Art Anerkennung muss etwas sein, was einen Menschen außerhalb einer Werteskala und unabhängig von Macht und Markt ausmacht. Dieses Unveräußerliche, nämlich nicht Verkäufliche, hat Kant auf den philosophischen Begriff der Würde gebracht.

Menschenwürde

Würde kommt dem Menschen in seinem Menschsein zu. Sie hat weder Tugend noch außermoralische Verdienste zur Bedingung, sie kommt Menschen bedingungslos zu. Kant (1724 – 1804) hat den Begriff Würde von verschiedenen Seiten her zu fassen versucht. Zum einen über die Autonomie des Vernunftwesens Mensch: die „Würde eines vernünftigen Wesens, das keinem Gesetze gehorcht, als dem, das es zugleich selber gibt“ (1785, BA 77)12. Nicht also das moralische Tun ist der Grund, sondern die Bedingung für Moralität ist das, was Menschen Würde zukommen lässt.

Sodann beschreibt Kant die Würde mit dem Blick auf den Markt: „Was einen Preis hat, an dessen Stelle kann auch etwas anderes, als Äquivalent, gesetzt werden; was dagegen über allen Preis erhaben ist, mithin kein Äquivalent verstattet, das hat eine Würde.“ Es ist aufschlussreich, diese Aussage genau im Blick auf den Markt zu sehen, auf welchem die Arbeitskraft des Menschen eine Ware wurde und einen Marktpreis erhielt. Bereits über hundert Jahre zuvor, nämlich 1651, hatte Hobbes in England angesichts der entstehenden Eigentumsmarktgesellschaft formuliert: „Die Geltung oder der Wert eines Menschen ist wie der aller anderen Dinge sein Preis.“ „Denn die menschliche Arbeit ist ebenso wie jedes andere Ding eine Ware, die mit Gewinn ausgetauscht werden kann“13. In diesem Zusammenhang übrigens ist das Ehrenamt eine gesellschaftlich notwendige Arbeitsleistung ohne Entgelt.

Kant sieht natürlich auch, dass die Menschen dem empirischen gesellschaftlichen Zwang des Marktes nicht ausweichen können. Deshalb formuliert er die Maxime, die aus der Menschenwürde folgt, recht vorsichtig: einen Menschen „niemals bloß als Mittel“ zu gebrauchen (BA 67).
Die dritte Bestimmung für Würde sieht Kant im Selbstzweck des Menschen: „... was die Bedingung ausmacht, unter der allein etwas Zweck an sich selbst sein kann, hat nicht nur einen relativen Wert, d. i. einen Preis, sondern einen inneren Wert, d. i. Würde“ (BA 78).
Würde ist die Errungenschaft des modernen Menschen in seinem Selbstverständnis und in seinem Selbstanspruch. Sie ist der Kern seines Identitätskonzeptes. Sie ist dies als eine soziale Größe, denn sie muss wechselseitig zuerkannt werden, und sie muss als Begriff im Diskurs gehalten werden. Unantastbar wird sie genannt, weil sie ein historisches Maß angibt, das nicht mehr rückgängig gemacht werden kann. Allerdings ist dieses Maß so missachtbar, wie der Mensch verletzbar ist. Würde ist Konstituens und Regulativ zugleich; sie kommt jedem Menschen zu und muss doch im Umgang wirksam gemacht werden. Dass jemand sie durch sogenanntes würdeloses Verhalten (wohinter ein ganz anderer Begriff von Würde steckt) nicht verlieren muss, liegt darin, dass andere ihn trotz seiner Untaten als Menschen in seiner Menschenwürde achten und behandeln. In demokratischer Gewaltenteilung hat deshalb die Judikative auch dem Verbrecher an der Menschlichkeit ein gerechtes Strafverfahren zukommen zu lassen.
Würde ist keine bloße Idee, sondern Begriff dessen, was Menschen spüren können und nach der Spur, die ich angedeutet habe, früh und überall gespürt zu haben scheinen. Den Menschen heute ist ihre Würde wahrnehmbar, zumal dort, wo sie sich als bloßes Mittel zum Zweck gebraucht fühlen. Wo sie von Ehrverletzung, Verachtung und Erniedrigung sprechen, da aktualisieren sie die „Entdeckung des autonomen Individuums, mit der seinem eigenen Sein entsprungenen Würde, unabhängig von allen gesellschaftlichen Identifikationen“ (Berger 197514). Bemerkenswert finde ich hierzu die Feststellung Roland Girtlers, dass er unter den sogenannten Randständigen unserer Gesellschaft ebenfalls ein Gespür für Würde gefunden habe. „Mit Ehre ist stets, dies habe ich in all’ meinen Studien bei Pennbrüdern, Dirnen und ‚feinen Leuten’ gefunden, so etwas wie Menschenwürde verknüpft, nämlich die Anerkennung menschlicher Qualitäten ...“.15
Hier erscheint die Würde nur als der Hintergrund von menschlichen Qualitäten und Ehre wird synonym mit Würde gebraucht. Das empfiehlt sich meines Erachtens nicht. Der Qualitätssprung von Ehre zu Würde wird hier verwischt. Dass gegenwärtig die Menschenwürde im Disput ist, ist ein höchst bedeutsamer gesellschaftlicher Diskurs, der die Errungenschaft Würde bewahrt und wachhält.
Dass Menschenwürde schwer operationalisierbar ist und in der Macht- und Marktgesellschaft ebenso schwer durchsetzbar, spricht nicht gegen sie als historisches Maß, sie bleibt vielmehr der Stachel, den sich die Moderne ins Fleisch gesetzt hat, die Bundesrepublik Deutschland durch Artikel 1 Satz 1 ihres Grundgesetzes. Und am 5. April d. J. las ich in der Rheinischen Post, Präsident Bush habe in seiner Forderung nach Rückzug Israels gesagt, Israel möge „Respekt zeigen vor der Würde des palästinensischen Volkes“. Ich nehme an, dass er für Würde das Wort „dignity“ gebrauchte. Was mit Würde gemeint ist und hier dargestellt wurde, dürfte über das Gespür hinaus auch in vielen Sprachen als Wort präsent sein, obwohl hier Schwierigkeiten auftauchen, je nach Geschichte und Kultur eines Volkes. So war es z. B. schwierig, bei der Übersetzung des Grundgesetzes der BRD ins Türkische – 1999 im Auftrag des Türkischen Bundes Berlin-Brandenburg – das adäquate türkische Wort zu finden. Einige veraltete Wörter aus der Sprache des Osmanischen Reiches kamen dem Gemeinten nicht nahe genug, so wurde „onur“ gewählt, das Ehre heißt. Es erinnert an „honor“, weil es vom französischen „honneur“ aus über türkische Republikaner ins Neutürkische gelangte, daher immerhin einen republikanischen Klang hat statt eines nach Privilegien16. Wenn hier aber aus Würde Ehre wurde, hört sich das wie ein Rückschritt an. Mit dem deutschen Wort und Begriff „Ausländer“ und mit dem deutschen Ausländerrecht grenzen wir sogar lebenslang unter uns wohnende Mitbürger aus. Innerhalb eines Ehrkonzepts mag das angehen, im Blick auf Menschenwürde nicht. Diese tendiert zum Weltbürgertum, wie Kant in seiner Schrift „Zum ewigen Frieden“ deutlich machte.

Zusammenfassung

Ich habe Schlüsselbegriffe geschichtlicher Epochen herausgestellt: Ehre, Toleranz, Anerkennung und Würde. Dabei habe ich ein Fortschreiten im Denken unterstellt, aber auch darauf hingewiesen, dass in unserer Gegenwartsgesellschaft alle Begriffe und entsprechendes Tun anwesend sind. Ehre ist ein Sediment vergangener Zeit. Sie sollte nicht hervorgehoben und aktualisiert werden. Toleranz geht über das Ehrkonzept hinaus, weil sie dessen Grenzen aufhebt. Toleranz wird von Anerkennung überholt, indem Anerkennung sein lässt, ohne an Verdiensten Maß zu nehmen. Damit zielt sie auf das, was im Begriff Menschenwürde als der Errungenschaft neuzeitlicher Zivilisation zu deren historischem Maß wird. Menschenwürde gehört als Herzstück in die Mitte der gesellschaftlichen Diskussion und muss mehr und mehr zu ihrer Praxis werden.

Arbeiten des Autors zum Thema


Fußnoten

1 Vgl. hierzu H. Jonas, Werkzeug, Bild und Grab. Vom Transanimalischen im Menschen. In: Scheidewege 15 (1985/86) 48 - 55
2 Hier nach: Annemarie Stern, Lieder gegen den Tritt. Politische Lieder aus fünf Jahrhunderten, Oberhausen (Asso) o. J., S. 28. In einer Handschrift des 17. Jahrhunderts überliefert. – Andere Quellenangabe: Ditfurth, 100 unedierte Lieder des 16. und 17. Jahrhunderts.
3 A. Schopenhauer, Aphorismen zur Lebensweisheit, hg. v. Rudolf Marx, Stuttgart 1964.
4 Ute Frevert 1991. Vgl. auch den Tenor der Antworten auf Ludgera Vogt in „Ethik und Sozialwissenschaften“ 10 (1999) 3 (folgend als EuS abgekürzt).
5 Enzyklopädie Philosophie und Wissenschaftstheorie, hrsg. v. Jürgen Mittelstraß, Bd. 4, Stuttgart, Weimar 1996, Art. Toleranz (Dieter Teichert), S. 317.
6 J. L. d'Alembert, D. Diderot, Enzyklopädie. Eine Auswahl, hg. u. eing. von Günter Berger, Frankfurt am Main 1989, S. 177.
7 A. a. O., S. 282.
8 Maximen und Reflexionen in sechs Abteilungen. Sechste Abteilung: Goethes Werke, hrsg. v. Heinrich Kurz, kritisch durchgesehene Ausgabe mit Beifügung aller Lesarten, 12. Band, Hildburghausen 1870, S. 731.
9 M. Dinges, Ehre ist ambivalenter, als sie bei der Wiederentdeckung erscheint. In: EuS, S. 347.
10 G. Notz, Totgesagte leben länger. In: EuS 10 (1999) 3, S. 366f.
11 L. Vogt, Die Modernität der Ehre. In: EuS.
12 Kant I., 1785, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten. In: Werke in 10 Bd., hg. v. W. Weischedel, Darmstadt 1981, Bd. 6.
13 Th. Hobbes, Leviathan oder Stoff, Form und Gewalt eines bürgerlichen und kirchlichen Staates (1651), hg. v. I. Fetscher, Frankfurt, Berlin, Wien 1976, S. 67, S. 190.
14 P. L. Berger, Ekkurs: Über den Begriff der Ehre und seinen Niedergang. In: Ders., B. Berger, H. Kellner, Das Unbehagen in der Modernität, Frankfurt am Main 1975, S. 84.
15 R. Girtler, Ehre ist unabhängig von Zeit und Kultur – ihre Strategien sind ähnlich bei Bauern, Rittern und Ganoven. In: EuS, S. 357.
16 Ich stütze mich auf einen Artikel von Konrad Schuller in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 16. 6. 1999, Nr. 136, S. 7, der überschrieben ist: Aus „Würde“ wurde „Ehre“.